Das Geheimnis der Mystik

Ein rationaler Blick auf ein irrationales Phänomen

Helmut Walther (Nürnberg)

Erweitertes Referat vor der Gesellschaft für kritische Philosophie Nürnberg
vom 26.05.2004






Einleitung

In jeder Mystik, sei dies ausgesprochen oder nicht, ist Dualismus enthalten. Es wird nämlich ein wie immer geartetes "Sondermedium" angenommen, in welchem entweder eine Einung mit dem "Göttlichen" möglich sein soll, oder es werden solche "Bewußtseinszustände" für möglich gehalten, die den Menschen in eine wie immer geartete "höhere Sphäre" heben, sei es als "Gleichzeitigkeit" oder "Einssein", sei es im Aufleuchten des "Nirwana".

Gegen solche Dualismen wendet sich mein Vortrag, da er dezidiert von einem immanenten und einheitlichen Weltbild ausgeht: Mystische Zustände sind körperliche Zustände, zu denen denn auch die Gehirnzustände zählen, aus denen sich je nach der Entwicklung der Ratio in Phylo- und Ontogenese unterschiedliche Interpretationen ergeben..

Es wird sich zeigen, daß dualistische Auffassungen darauf zurückzuführen sind, daß Verstand und Vernunft als empirisches bzw. reflexives Vermögen im einzelnen Individuum unterschiedliche Interpretationsergebnisse liefern, und eben damit lassen sich auch die unterschiedlichen Formen von Mystik erklären.

Dies soll in einem kursorischen Überblick über die Entwicklung der Mystik in verschiedenen Kulturgebieten verdeutlicht werden; dabei können aus Zeitgründen nicht alle Richtungen erörtert werden, wie sie in der vorliegenden vergleichenden Zeittafel zusammengestellt sind.

Den phylogenetischen Umbruch vom Verstand zur Vernunft, der sich in den großen Kulturen global etwa vom 8. bis 2. Jh. vuZ. beobachten läßt, bezeichnet Karl Jaspers als "die große Achsenzeit" – er hat ein Gespür für die "Andersheit", die mit der Auswicklung dieses neuen Vermögens in der Menschheit aufbricht.(1) In seinem Buch "Die Großen Philosophen" finden sich (neben vielen anderen) die auf meiner Zeittafel eingetragenen Namen fast sämtlich wieder – dies sollte zu denken geben: Laotse, Buddha, Jesus, Plotin, Augustinus als Philosophen? Und doch zugleich Mystiker. Parmenides, Heraklit, Platon, Spinoza als Mystiker? Und doch zugleich Philosophen?

Ob einer eher als Philosoph denn als Mystiker einzuordnen ist (und umgekehrt), steht und fällt mit der ihm je eigenen Bewertung der Ratio des Menschen: In aller Religion und deren Mystik finden wir eine Abwertung des Rationalen zugunsten des Irrationalen; die Philosophie hingegen hält an der Vernunft fest. Sie allein ist ihr der Weg zum "Wahren". Doch auch noch die Vernunft, wenn sie an ihre Grenzen geht bzw. diese überschreitet, vermag an das Mystische zu streifen, so etwa auch Jaspers selbst mit seinem Begriff der Transzendenz und dem Kontakt zum "Umgreifenden", oder Nietzsche mit seinem Bild des "Übermenschen", den er selbst "auf eine Sekunde erreichen" will. Auch kann Philosophie selbst ins Hermetische(2) umschlagen, wie bei Heidegger in seiner Seinsmystik.(3)

Grundzug alles Mystischen, sei es in der Verstandes- oder Vernunftkategorie, ist die Vereinigung mit bzw. der "direkte Draht" zum Göttlichen als unaussprechlich Überlegenem. Der Mensch versucht in seiner Abhängigkeit von den unverstandenen natürlichen wie gesellschaftlich-politischen Wirkungen die Grenzen des Rationalen zu überschreiten und sich in dieser Einung mit dem unverstanden Überlegenen dennoch ins Benehmen zu setzen. Insoweit hat Feuerbach in seiner "Theogonie" durchaus Recht, daß auch noch in der Mystik der Wunsch der Vater des Gedankens ist, den uns der mystisch Entrückte nach dem Wiedereintritt in die rationale Sphäre schildert. Letzteres ist ja die Krux aller Mystik: Dieser Zustand soll sich nur erleben, aber nicht rational erfahren lassen – vielmehr wird der Rückgang ins "Normalbewußtsein" immer als ein "Abstieg" beschrieben, als Abstieg aus einer sprachlich unbeschreibbaren "Höhe" und Erlebnisintensität, die sich mit nichts anderem vergleichen lasse. Dies ist, nebenbei gesagt, auch eine Form der Immunisierung: Wenn jede Nachprüfbarkeit und Intersubjektivität per definitionem von vorn herein ausgeschlossen wird, verläßt man den Boden sinnvoller Mitteilung zugunsten eines solipsistischen Subjektivismus, mit dem sich jedes und alles behaupten läßt.

Diese "Ekstase" wird sich je nach individuellem Entwicklungsstand ganz unterschiedlicher Mittel bedienen wie ebenso die Ziele aus dem gleichen Grunde differieren:

a) Der Verstand sucht Dämonen und Götter im Außen, es gilt, einen "übersinnlichen" Bewußtseinszustand herzustellen, um mit ihnen in Kontakt zu treten; daher finden wir auf dieser Ebene alle möglichen und unmöglichen Mittel, um entsprechende Veränderungen der Sinneswahrnehmung zu erlangen. Wie naheliegend, erweisen sich dazu insbesondere alle den Menschen erreichbaren Rauschmittel als geeignet: von gekauten, getrunkenen bzw. über die Nase aufgenommenen Substanzen bis hin zu körpereigenen Endorphinen, die mittels Musik, Bewegung bzw. Askese manipuliert werden. Alle diese Manipulationen finden wir in teils gleichgebliebener, teils in "moderner" Form auch heute noch, von den Weihrauchfässern in den Kirchen bis zum LSD-Gebrauch.

Was in diesen Fällen der chemischen Einwirkung auf die neuronale Signalverarbeitung als angebliche Bewußtseinserweiterung behauptet wird, stellt sich bei näherem Hinsehen ganz anders dar; zwei Grundmuster lassen sich vor allem ausmachen:

– eine Wahrnehmungs- bzw. Interpretationsverzerrung durch Veränderung der normalen Signalverabeitung (Anlagerung von Neurotransmittern an neuronalen Rezeptoren)

– ein Zurückdrängen der rationalen Signalverarbeitung bis hin zur Abschaltung dieser Zentren

Wie und woher soll es aber in diesen beiden Fällen zu "übersinnlichen" Wahrnehmungen kommen? Will man uns wirklich glauben machen, daß eine gestörte Vorstellung und Interpretation "richtigere" bzw. "höhere" Einsichten bewirken könnte? So manche Götterfratze erlaubt vielmehr Rückschlüsse auf solche Wahrnehmungsverzerrungen. Insbesondere werden durch solche chemischen Einwirkungen in Form der vorgenannten Praktiken vor allem auch emotionale Ängste verstärkt, wie schon so mancher LSD-Proband berichtete. Umgekehrt sind "Hochgefühle" möglich, in denen sich das Individuum "erhöht" und "ganz außer sich" erlebt – was Wunder, daß es sich von "göttlichen Mächten" an die Hand genommen fühlt.

Bedeutsamer noch die zweite Variante, da insbesondere in der Askese, im Tanz der Sufi-Derwische und in der Meditation ein Auslöschen des rationalen Bewußtseins angestrebt wird in der Meinung, dadurch in "höhere Bewußtheitszustände" zu gelangen. Doch welchen "Bewußtheitsgrad" hat einer inne, der seine rationalen Gehirnfunktionen außer Betrieb setzt? Nun, er begibt sich auf die Ebene des empfindenden Tieres, indem er den rationalen Zusammenhang der Welt des Verstandes verläßt. Natürlich "verfließen" ihm die Dinge, weil er sie mit dem Verstand, der die Dinge schafft, losläßt. Aber dies ist kein höherer, sondern ein niedrigerer Bewußtseinszustand.

b) Die Vernunft besteht in der eigenständigen Abstraktion der Verstandesdaten; sie geht auf das jeweilige "Wesen(tliche)" des "nur Seienden", wie es sich den Sinnen zeigt; auf diese Weise werden die Sinnesdaten des Verstandes reflektiert und in der abstrahierenden Reduktion auf ihr "gleiches Wesen" subsumiert. Wie leicht ersichtlich, bewirkt diese Konzentration der Vernunft auf die Verstandesdaten eine Innenwendung; das "wahre Wesen" der Dinge wird nicht mehr im Außen, sondern im Inneren des Menschen, in seinem eigenen Geist gefunden.
Das griechische mýein, aus welchem Wortstamm sich die Mystik herleitet, bedeutet "die Augen schließen", was genau auf diese Innenwendung hinweist. Jedermann kann an sich selbst beobachten, daß konzentriertes Denken (das – womit sonst – mit Gedächtnisinhalten, also emotionalen, Verstandes- und Vernunftdaten auf dem "Innenspiegel", dem Arbeitsspeicher des Gehirns, umgeht) eine Abschottung gegenüber äußeren Sinnesreizen bewirkt; umgekehrt machen starke Sinnesreize ein solches "eigentliches" Denken unmöglich oder stören dabei erheblich. Auch hieran wird deutlich, daß dies reflektierende Denken in Gedanken etwas anderes ist als der verstandesmäßige Umgang mit aktuellen Sinnesdaten. Und so gibt es offenbar notwendig diesen Mechanismus des "Augenschließens" beim vernünftigen Denken – alle falschen Schlußfolgerungen der Mystiker stammen daher, daß sie dies Augenschließen verabsolutieren und glauben, aus dem eigenen "Geist" ohne die Rückbindung an Verstand und Emotio die "reine Wahrheit" ungetrübt von den "Erscheinungen" als "göttliches Sein" gewinnen zu können.
Wie wir in allen großen Kulturen beobachten können, tritt an dieser Stelle des Übergangs vom Verstand zur Vernunft in China ebenso wie in Indien, und natürlich vor allem in Griechenland, die Unterscheidung zwischen Schein und Sein hervor – genau dies ist der Motor der "Achsenzeit" ebenso wie der Auslöser aller Weltreligionen samt einer neuen Form von Mystik: der geistigen Annäherung und Einung mit dem Göttlichen, das als "rein geistiges Konzentrat" unaussprechlich wird.

Laotse

Das Bewußtsein dieser Unaussprechlichkeit zeigen alle Hochreligionen, sei es im Tao des Laotse, im Nirwana Buddhas, im Bilderverbot des christlichen wie islamischen Gottes. Um es mit Laotse beispielhaft zu sagen:

"Der SINN (Tao), der sich aussprechen läßt,
ist nicht der ewige SINN.
Der Name, der sich nennen läßt,
ist nicht der ewige Name."(4)

In den Grundaussagen der Vernunftmystik besteht über alle Kulturen hinweg eine große Gemeinsamkeit; dies kann deshalb nicht verwundern, da sich diese überall der gleichen Entwicklung vom Verstand zur Vernunft verdankt, was bekanntlich eine Entleerung vordergründiger Sinnlichkeit und Verschiedenheit bedeutet; so zeigen sich der Reflexion überall die gleichen "vernünftigen" Abstraktionsergebnisse auf die Verstandesdaten, deren Interpretation aber je nach Entwicklungsstand und vorauslaufender Tradition variiert.

Vergleichen Sie die beigegebenen Stellen Laotses aus dem Tao Te King mit solchen aus dem Neuen Testament, dem Neuplatonismus oder Meister Eckhart(5), so werden Sie auf weitgehende Übereinstimmungen stoßen, obwohl die Aussagen bis zu 2000 Jahren auseinander liegen.

(22) [S. 59 – "Neues Testament" ...]
Was halb ist, wird ganz werden.
Was krumm ist, wird gerade werden.
Was leer ist, wird voll werden.
Was alt ist, wird neu werden.
Wer wenig hat, wird bekommen.
Wer viel hat, wird benommen.
Also auch der Berufene:
Er umfaßt das Eine
und ist der Welt Vorbild.
Er will nicht selber scheinen,
darum wird er erleuchtet.
Er will nichts selber sein,
darum wird er herrlich.
Er rühmt sich selber nicht,
darum vollbringt er Werke.
Er tut sich nicht selber hervor,
darum wird er erhoben.
Denn wer nicht streitet,
mit dem kann niemand auf der Welt streiten.
Was die Alten gesagt: »Was halb ist, soll voll werden«,
ist fürwahr kein leeres Wort.
Alle wahre Vollkommenheit ist darunter befaßt.

Hinduimus

Auch die indische Religion und Mystik macht in dieser Entwicklung keine Ausnahme: Die sogenannten (vier) Veden ("Wissen" von "sehen": lat. videre) bilden sich aus nach der Einwanderung der indogermanischen Arier (um 1500 vuZ.), die etwa gleichzeitig auch den Iran und Nordgriechenland erreichen. Offenbar vermischen sich dabei die religiösen Vorstellungen der ansässigen Ureinwohner und der Neuankömmlige. Die Rigveda, eines dieser Bücher, besteht vor allem aus Opferliedern für Götter und Halbgötter, es handelt sich hier noch um eine polytheistische Volksreligion des Verstandes, eine Opfer- und Werkreligion. Zwischen 800 und 500 werden die Upanishaden(6) (Lehrgespräche) verfaßt – und in ihnen läßt sich zeitlich ganz parallel wie überall die nämliche Wendung nach innen erkennen. Die zentralen Begriffe: Atman (Hauch, Atem) und Brahman (heiliges Wort), verwandeln und vergeistigen sich nach und nach einerseits zur Seele, zum Kern des menschlichen Selbst, und andererseits zur schöpferischen Urkraft der Welt. Ziel der Lehre der Upanishaden ist die Erlösung aus dem Kreislauf der Geburten durch die Erkenntnis der Einheit von Atman und Brahman und die Verwirklichung dieser Einheit. Die Wiedergeburt richtet sich nach dem Gesetz des Karma (der Qualität der Taten des vergangenen Lebens) – und daher ist das Kastenwesen in Indien so wichtig wie unheilvoll: Entsprechend dem Karma wird man in eine Kaste hineingeboren, die man außer durch Wiedergeburt nicht verlassen kann. Eine Systematik dieser Wiedergeburten bietet jenes Gesetzbuch des Manu, das Nietzsche in seiner Genealogie der Moral meinte so hervorheben zu müssen.

Etwa um die Zeitenwende bilden sich im Hinduismus entsprechend der global beobachtbaren Religionsentwicklung monotheistische Sekten heraus, vor allem in Bezug auf Vishnu und Shiva. Diese werden jeweils als einer Herr (ishvara) vorgestellt, und das Bezugsverhalten zu diesem Herrn ist die Liebe (bhakti). Die Unheilssituation des Menschen, die wiederum in allen Weltereligionen vorhanden ist – und darum heißt die Zeitenwende zu Recht so – beruht im Hinduismus nicht, wie etwa im Christentum, auf Sünde und Schuld, sondern auf dem "Gebanntsein in die Geburtenfolge individueller Existenzen (samsara)."(7) In der Bhagavadgita besteht daher das Ziel des Menschen im "Zu-Vishnu-Kommen" und im "Aufgehen im Brahma-Nirvana":

"Wer mich verehrt, gelangt zu mir"; "Der Fromme wird zum Brahman selbst und wird im Brahman ganz verwehn"; "Die liebend mich verehren, die sind in mir, in ihnen ich."(8)

Auch der Hinduismus kennt eine "Trinität", ähnlich der christlichen: Kontinuität und Wandel werden im Trimurti-Begriff (drei Götter in einem Bildnis) zusammengefaßt; diese Dreiheit besteht aus Brahma, dem Schöpfer, Vishnu, dem Bewahrer, und Shiwa, dem Zerstörer und Erneuerer. Diese werden als Erscheinungsformen des Brahman, des in den Upanishaden beschriebenen einen Gottes als der allumfassenden Weltseele betrachtet.(9)

Was am mystischen Moment noch fehlt, wie wir es vom Christentum und hier besonders den Mystikern Paulus und Augustinus her kennen, ist die Vermittlung zwischen Gott und Mensch durch die göttliche Gnade; doch ebenso wie in der buddhistischen taucht offenbar notwendig innerhalb der vernunftbasierten Mystik dieser Gedanke auch hier auf. Zu lösen vom Samsara-Band der Wiedergeburten vermag nur die durch göttliche Gnade bewirkte Glaubenseinung mit dem Gott: Kein Tun, kein Mittel stellt das Freisein von der Weltverbindung her. Es "ist die Wirkung ohne Grund, die Grund nicht hat im Menschenwerk. Das Herz dir lösen aus der Welt kann Büßung nicht, Versenkung nicht. Allein aus Gnaden Vishnus wird sie dir verliehen ohne Grund."(10)

Wir sehen, auch die hinduistische Mystik mündet schließlich in die Einung zwischen Gott und Mensch. Ebenso wie im Taoismus und im Buddhismus – und nicht zuletzt im Christentum! – lassen sich auch in der indischen Religionsentwicklung die verschiedensten Ausprägungen der ursprünglichen Religion und Mystik finden, über die im Einzelnen hier nicht berichtet werden kann; angemerkt sei aber, daß es sowohl im Hinduismus ebenso wie im japanischen Buddhismus zu genau jener "Kirchenspaltung" kam wie im Abendland mit der "Reformation": Hier die Mitwirkung des Menschen am Heil durch eigene Werke, dort die Erlösung allein aus "Gnade". Woran wir entnehmen können, daß selbst der Entwicklungsgang der Hochreligionen noch gleichen Denkmustern folgt. Und auch noch für die Masse der Gläubigen gilt in allen Hochreligionen das Nämliche: Die Volksreligiosität ist durchsetzt und durchmischt mit alten Formen von Brauch und Mystik, uralter Aberglaube gehört zu ihrem Bestand, Rom gibt hier kein anderes Beispiel als Tibet.

Budhhismus

Damit sind wir beim Buddhismus angelangt, der einerseits an der bereits geschilderten indischen Tradition ansetzt, andererseits wichtige Bestandteile der vedischen Religion über Bord wirft:

Zwar wird am dort bereits entwickelten Gedanken der Erlösung im Nirwana als Ausscheiden aus dem Kreislauf der Wiedergeburten festgehalten, preisgegeben wird jedoch vor allem der Opfergedanke wie die strenge Askese und die Kasteneinteilung; können diese Bestandteile der vorlaufenden vedischen Werkreligion doch nichts zur individuellen Erlösung beitragen, die hier jedem (zunächst allerdings nur männlichen!) Menschen offensteht und allein durch Erleuchtung in der Annahme der Lehre Buddhas erfolgen kann.

In seiner ursprünglichen Form (Hinayana bzw. Theravada(11)) war der Buddhismus ausschließlich Mönchsreligion, gestiftet von dem aus Nepal stammenden Adligen Siddharta Gotama (560-480 vuZ.), an dessen realer Existenz heute nicht mehr gezweifelt wird. Die Übereinstimmungen mit dem christlichen Religionsstifter in der Grundtendenz, aber auch in Lehrinhalten und Lehrweise, ebenso im Wirkungsgang wie in der Überlieferung sind teilweise frappierend. Dies umso mehr, wenn in der späteren Form des Mahayana sich diese Religion um die Zeitenwende an alle Menschen als wirkliche Weltreligion richtet und in ihr nun Buddha bzw. die Boddhisatvas als Erlöserfiguren erscheinen parallel zu Christus und den Heiligen in der Herausbildung der christlichen Lehre. Es sind die gleichen Grundgedanken in allen Weltreligionen, die aus der Denkstruktur der Vernunft stammen, die alle auf die Erlösung durch Einung zielen und dazu ganz ähnliche Wege vorsehen.

Dies ist für Buddha zunächst die Meditation als ein sich innerliches Versenken; genau wie Jesus in der Wüste wird auch er unter seinem "Baum der Erleuchtung" vom Teufel versucht, bis die existenzumstellende Erkenntnis des "dreifachen Wissens" in ihm aufleuchtet: die Erinnerung an die eigenen früheren Geburten, das in deren Kreislauf herrschende Karma-Gesetz sowie die "vier Wahrheiten", mit denen die Unheilssituation überwunden werden kann. Dabei ist die Erleuchtung ein "Gnadengeschenk ohne Schenker"(12):

"Der Jünger hat dessen nicht Macht und Gewalt, daß sich seine Seele ... von allem Haften am Vergänglichen und aller Verderbnis lösen werde ..."

Dieses Gefühl des Gegeben-Werdens der Erleuchtung ist ein Grundzug aller Vernunftmystik, gleichgültig, ob ein gebender Gott mitgedacht wird oder nicht. Nur die Vorbereitung liegt in der Hand des Menschen; typisch ist weiter, die gesamte Normalexistenz des Menschen und hier insbesondere seine Abhängigkeit von Leib und Emotio als "Verderbnis" zu begreifen. Dies ist die Unheilssituation bei Laotse ebenso wie bei Buddha und im Christentum.

Die Aufhebung dieser Unheilssituation durch Ausscheiden aus dem Kreislauf der Wiedergeburten in der "postmortalen Existenz" umschreibt Buddha so:

"Seine (Buddhas) Gestalt, die man eventuell im Auge haben könnte, wenn man von ihm spricht, ist abgetan, von Grund aus annulliert ... jenseits der Möglichkeit, in Zukunft je wieder entstehen zu können, und der Thatagata ist erhaben über alle Begreifbarkeit mittels der Auffassungsform, die wir Gestalt nennen. Er ist undefinierbar, unbestimmbar, unergründbar wie der große Ozean. Es wäre falsch zu sagen: ‚Er ist’, es wäre ebenso falsch zu sagen: ‚Er ist nicht.’

"Dieses Nirvana ist fraglos die typisch mystische Heilsgröße, die dem ‚esse purum et simplex’ (dem reinen und einfachen Sein) des Meisters Eckhart entspricht. Von dieser Heilswirklichkeit sprechen die Mystiker eigentlich nur in Negationen, weil ihnen die Inadäquatheit des Begriffs gegenüber dem Absoluten und Irrationalen stets bewußt ist."(13)

Natürlich besteht die Mystik des Buddhismus, wie sie vom Buddha selbst ausgeht, nicht nur in solcher realitätsverneinenden Vernunftmystik, vielmehr haben sich im Lauf der Ausbreitung dieser Religion einmal im Mahayana sowie dann im "diamantenen Fahrzeug", der tibetischen Form des Buddhismus, die verschiedensten Formen und mystischen Praktiken ausgebildet: Meditation, Tantrismus und sonstige Stimulationen. Als besonders drastisches Beispiel sei hier die Selbstmumifizierung als höchste Form der "Versenkung" erwähnt: Es wurden buddhistische Mumien gefunden, an denen keinerlei Anzeichen von äußerer Einbalsamierung festzustellen war, und an denen vor allem die merkwürdige Stellung auffiel. Bei den Gebetsübungen wird häufig ein Gurt, genannt Gompa, verwendet, der die verschiedenen, oft schwierigen Stellungen unterstützen soll. Dieser kann nun so umgelegt werden, daß der Übende sich in eine Hockstellung versetzt, die Knie vor der Brust, und dabei den Gurt doppelt um den eigenen Hals geschlungen sich selbst damit um die Knie umlaufend zusammenbindet. Diese teilweise Selbststrangulation bewirkt eine weitere Herabsetzung der Körperfunktionen; dabei fastet der Übende bzw. nimmt nur solche Nahrung zu sich, welche die bakterielle Darmflora in Schach hält. Auf diese Weise kommt es zu einer Austrocknung und Selbstmumifizierung – Sinn dieser Praxis ist es, daß der Mumifizierte nunmehr als quasi sichtbarer Boddhisatva für seine Mitgemeinde zum Heilsbringer wird, etwa wenn der Regen ausbleibt oder zur Rettung vor Feinden. Solche Mumien fanden sich in Tibet früher häufig, wurden jedoch im Zuge der chinesischen Besetzung vernichtet, so daß sich solche jetzt wohl nur mehr im Nepalesischen Gebiet befinden, wo sie auch heute noch als Heilige angerufen werden.

Rekapitulieren wir: In jeder Hochreligion finden wir nebeneinander mehrere Formen von Mystik:

– einmal eine "Erlösungsmystik", die sich auf die normalen Menschen bezieht, die nicht individuell zu eigenständiger mystischer Erkenntnis in der Lage sind, und die sich daher auf eine Erlöserfigur beziehen.

– zweitens bewußtseinsverändernde Praktiken (Meditation, Joga, Selbstkasteiung, Bewußtseinsmanipilationen durch stofflich-sinnliche Einwirkung auf das Gehirn), mit denen das Individuum meint, das rationale Bewußtsein "erweitern" bzw. ihm entfliehen zu können.

– drittens Vernunftmystik im Wege der "Erleuchtung", die rational auf ethisch-begriffliche Weise beginnt (Erkennen der Leidenssituation) und schließlich sich "über die Ratio" hinaus zu bewegen sucht.

All diese drei Formen finden sich auch im Christentum wieder, denn auch dieses ist eine zutiefst mystische Religion. Der Normalchrist "eint" sich mit seinem Gott, indem er ihn beim Abendmahl aufißt und sein Blut trinkt – vorausgehen muß der Glaube an den zur Trinität gehörigen "Mittler" und "Retter" und dessen Selbstopfer für die Menschheit samt dessen leiblicher Auferstehung, und hinzutreten muß die Gnade, die im Wege göttlichen Vorauswissens die Auserwählten bestimmt.

Dieses Auftreten von Erlöserfiguren läßt sich wiederum in allen bisher genannten Weltreligionen, und zwar gleichzeitig um die Zeitenwende, beobachten. Dies dürfte sich dem Umstand verdanken, daß nunmehr diese von der Vernunftsicht auf die Welt ausgelösten Hochreligionen in die Breite des Menschengeschlechts wirken. Denn die hergebrachten Volksreligionen verlieren ihre Bindungskraft durch diese neuen Gedanken, die in die Tradition des Normalmenschen eindringen. Da dieser jedoch zu einer individuellen Einung und Erleuchtung nicht in der Lage ist, wie es schon Buddha konstatierte, bleibt gar kein anderer Weg, als daß die Stifterfigur selbst in göttliche Sphären rückt bzw. sonstige Erlöserfiguren die Vermittlung der Erlösung übernehmen. Und so avancieren Laotse und Buddha bzw. die altindischen Gottheiten zum Soter, zum "Retter" ebenso wie Christus zum Heiland, der sich ähnlich wie Buddha schwerlich selbst in dieser Rolle gesehen haben wird.

Die Bandbreite der individuellen mystischen Praktiken ist im Christentum ebenfalls um nichts geringer als anderswo: Büßer- und Flagellantentum, Askese, Versenkung im Gebet, Meditation, Gehirnwäsche (etwa mit den Exercitien des Ignatius von Loyola) bis hin zum "spirituellen Erlebnis" vor "Gnadenbildern" – all dies existiert auch heute noch im Christentum. Schauerlicher Höhepunkt hier wohl der Nachvollzug der "Leidensmale" Christi von Franz von Assisi bis zu Therese von Konnersreuth ...

Zugrundeliegend sehe ich die folgende innere Entwicklung im Denken der Menschen:

Das Heil des Verstandes ist das Unheil der Vernunft, in das die Menschheit mit Laotse, Buddha, der griechischen Philosophie und dem Christentum global gerät – und darum wird hier zu Recht eine Zeitenwende angesetzt. Die Vernunft hat eine grundsätzlich andere Perspektive auf die Welt als der Verstand und setzt sich ganz andere und innerliche Ziele, und sie setzt sich in ihrer eigenen Verwirklichung zunächst dem Verstand entgegen: Alles was der Verstand sieht, ist der Vernunft bloße Erscheinung, wahres Sein kann allein sie vermitteln, so nur ist es griechisch gedacht, und noch Meister Eckhart wird nichts anderes sagen. Aus eben derselben Wurzel stammt auch die Ablehnung der "Sinnenlust", die "Leibfeindlichkeit" aller Hochreligionen bzw. der Anspruch der Philosophie, die Leidenschaften zu beherrschen – bis hin zu Kantens "Liebespflicht", in der ethisches Handeln nicht durch Mitgefühl bewirkt sein darf, sondern allein aus der Vernunft stammen soll. Woher diese Gegnerschaft von Verstand und Vernunft? Die Vernunft erlebt das Sinnlich-Leibliche zunächst als abziehend von ihrem Ideal, das sie selbst aus ihrer Vergleichsstruktur als eigentliches "Sein" und "Wesen" heraus anstrebt. Der Leib, der sie trägt, will etwas anderes als sie selbst, unbewußt will er sich von Lust fortziehen lassen, wo die Vernunft als Geist nach möglichster Klarheit und Selbsterkenntnis strebt – um dies in den Griff zu bekommen, muß sie sich dem Leib, seinen Sinnen und Leidenschaften vor allem erst einmal entgegenstellen: ein Grundzug der Hochreligionen wie der alten Philosophie. Der Motor dieser ganzen Bewegung ist die dialektische Spannung zwischen Verstand und Vernunft, Schein und Sein, und natürlich erhält die neuere Sehweise, wie sie die Vernunftreflexion erlaubt, notwendig den Vorzug.

Griechenland

Am besten läßt sich dies zeigen am rationalsten Weg, der in dieser Entwicklung beschritten wurde, an der griechischen Philosophie; denn diese verdankt sich den gleichen Denkstrukturen und -mustern dieser "Achsenzeit".

Am Anfang stehen in Griechenland die Vorsokratiker, und diese decken die Wesenseigenschaften der Welt nicht im Spekulativ-Religiösen auf, wie die Religionsstifter, sondern suchen diese innerhalb der sichtbaren Welt aufzufinden. So werden zunächst als Beginn der Naturwissenschaften verschiedene Weltsysteme aus einem Prinzip erdacht – aus Feuer, Wasser, Luft oder Erde bzw. deren Vermischung soll alles entstanden sein, was ist. Zwar kommen diese ersten Versuche noch im mythischen Gewand daher – wie anders sollten diese vorher ungedachten Zusammenhänge auch sagbar sein? Xenophanes weist auf die Einheit der Gottheit hin ebenso wie auf deren Unerkennbarkeit – alles Reden von Gott sei bloßes Meinen über Erscheinungen – konsequent bezeichnet er seinen eigenen Glauben als hypothetisch. Und so fordert er eine von diesem Sinnesschein freie Weisheit, die er in der Gott-Natur des Alls verehrt. Diese Hinwendung zum Sichtbaren und die Abwendung vom Unsichtbaren, vom Nirvana, drückt dann Parmenides, um 540-480 vC – also ein genauer Zeitgenosse Buddhas – im Gegensatz zu letzterem so aus:

"Man soll es aussagen und erkennen, daß es Seiendes ist; denn es ist (der Fall), daß es ist, nicht aber, daß Nichts (ist)."(14)

Deutlich wird hier dem Sein des Seienden der Vorzug gegeben vor dem Nichtsein und bloßen Schein, wie er in den asiatischen Religionen interpretiert wird. Bereits hier an der Wurzel der Entwicklung sehen wir die unterschiedliche Stellung zu Mensch und Welt, die der asiatischen bzw. der abendländischen Tradition ihr je eigenes Gepräge gab. Was bei den Griechen, vor allem bei den Sophisten, nur eine Durchgangsstation ist: die Welt etwa mit Heraklit und Protagoras als Schein zu erkennen, verfestigt sich dort zur Weltflucht. Im Gegensatz dazu stellt Demokrit (460-371 vuZ), der "lachende Philosoph", neben seiner Atomlehre eine diesseitige eudämonistische Ethik auf, Heiterkeit der Seele durch Mäßigung der Begierden ist sein Ziel.

Den Höhepunkt der antiken Vernunftauswicklung, der auch noch unser Denken prägt, bildet die griechische Troika Sokrates, Platon und Aristoteles: Die Vernunft im Menschen wird sich ihrer selbst bewußt und übernimmt seither die Leitungsfunktion in der Tradition. Erkenntnis ist Grundlage der Tugend, es gilt, das Wesen des Seins zu erkennen und das Seiende aktiv danach zu gestalten – der genaue Gegenpol zur irrationalen Erkenntnisflucht und zur Aufforderung zum Nichthandeln bei Laotse und Buddha. Die "göttlichen Ideen" (Platon) bzw. "Formen" streben durch den Eros vermittelt ihrer Entelechie zu, ihrem in ihnen liegenden Ziel der Vollkommenheit. Auf Stufen sich vom Sinnenschein lösend wird so dem menschlichen Geist zuletzt die Gottheit als Inbegriff des "Guten, Wahren und Schönen" sichtbar. Dieses "Schauen" ist aber nicht Selbstzweck, wie in der asiatischen Mystik, sondern wendet den Schauenden um, damit er in seiner Realität das Geschaute verwirkliche, das Seiende dem "wahren Sein" möglichst anähnliche: der Kern des griechischen Idealismus.

Die Frage der Unsterblichkeit der Seele wird in der griechischen Religion ganz uneinheitlich und auf das Verschiedenste gesehen; die Antworten reichen von einer völligen Ablehnung über die Seelenwanderung ähnlich wie in Asien bis hin zu den platonischen Dialogen Phaidon und Phaidros, in denen die Unsterblichkeit der Seele teils mythisch geschildert, teils rational bewiesen werden soll.

Als weitere Parallele in der Religionsentwicklung bildete sich im Hellenismus der Monotheismus ebenso wie in Asien heraus; es könnte sogar sein, daß diese Entwicklung in Asien dadurch erst angestoßen wurde: Alexander schafft das erste wirkliche Weltreich, das jedenfalls in seinem geistigen Kern vom 3.Jh vuZ bis zum 4. Jh. nuZ Bestand hatte. Alexander hatte es ganz bewußt auf die Herausbildung einer "Weltbevölkerung" abgesehen, Völker und Kulturen sollten sich vermischen und dadurch vereinheitlichen, natürlich unter Führung dessen, was der griechische Geist in Wissenschaft, Philosophie und Kunst hervorgebracht hatte einschließlich einer Weltsprache: der Koinä. Was heute Englisch ist, das war damals das Griechische, mit dem man sich von Spanien bis Indien verständigen konnte.

Ja, Alexander plante gar, die halbe Bevölkerung Europas nach Asien umzusiedeln und umgekehrt – verhindert wurde dies allein durch seinen frühen Tod. Jedenfalls bewirkten die Alexanderzüge und seine Stadtgründungen bis hin zum Indus auch eine Vermischung des Religiösen hin zum Synkretismus. So bildeten sich unter anderem monotheistische Kulte für Asklepeios, Sarapis oder Isis, die als Allgottheiten die anderen Gottheiten jeweils in sich aufnahmen. Wie oben bereits für den Hinduismus geschildert finden wir auch hier eine "Trinität" aus Isis, Osiris-Sarapis und ihrem Sohn Horus – ein Vorbild mit großer Wirkung, wie wir wissen ...(15)

Orientalischer Herrscherkult, dem sich Alexander und sodann die Diadochen anpassen, und der griechische Gedanke von Halbgöttern führen gleichzeitig dazu, daß nunmehr auch in Europa die Herrscher als "Soter" (Retter) und "Euergetes" (Wohltäter) vergöttlicht werden, was schließlich in die römischen Kaiserkulte mündet. Entscheidend auch für die christliche Religion wird diese damit im gesamten hellenistischen Kulturkreis wohlbekannte Konstruktion des "Heilands", dessen Aufgabe es ist, all jenen Menschen das Seelenheil zu gewährleisten, die aus eigener Kraft dazu nicht in der Lage sind – ganz parallel wie im Hinduismus Vishnu und Shiva bzw. Buddha sowie die Boddhisattvas im Buddhismus.

Gleichzeitig wurden im griechischen Kulturraum Geistesgrößen vergöttlicht und diesen ein eigener Kult eingerichtet, so vor allem dem Pythagoras, und ironischer Weise auch Epikur, dem "Befreier von religiösen Wahnvorstellungen", wie Plutarch und Cicero berichten, weil er die "Heilmittel der Erlösung" dargeboten habe.(16)

Einer der bedeutendsten Allgötter wurde Dionysos, in dem in der Legende Alexander selbst nach seinem Tode vergöttlicht wurde; seine Mysterien durchdrangen den gesamten hellenistischen Sprachraum, in allen bedeutenderen Städten wurden ihm Heiligtümer eingerichtet. Der Dionysos-Kult zielte auf eine mystisch-orgiastische Vereinigung mit der Gottheit, er ist das "Symbol des immer sich erneuernden unsterblichen Lebens, dessen man in seinen Mysterien teilhaftig zu werden suchte."(17) Genaueres über derartige Mysterien wissen wir aus Apulejus: Der Einweihung in die Lehre geht eine Taufe voraus, der ein zehntätiges Fasten folgt. Nach einer geheimnisvollen Wanderung durch alle Elemente bis zum Rande des Todes im Allerheiligsten (man kann sich das wohl etwa so wie in der Zauberflöte ausmalen) feiert der Myste "als zu einem Leben neuen Heils wiedergeboren seinen Geburtstag. Denn nun kann ihm auch der Tod nichts mehr anhaben."(18)

Ganz ähnliche Elemente finden wir seit ca. 400 vuZ. in der persischen Mithras-Religion, die dem Christentum am gefährlichsten werden sollte; auch dort gibt es eine Taufe, ein heiliges Mahl und einen verpflichtenden Eid (sacramentum), durch den die Mysten zu "Kriegern des Mithras" werden. Bekanntlich wurde diese Religion vor allem durch die römischen Truppen im gesamten Reich verbreitet. Mithras selbst ist der wiederum dreieinige Mittler zwischen Gott und Mensch. Die höchste mystische Offenbarung besteht in der "Himmelfahrt der Seele, die der Myste in der Ekstase erlebt und wobei seine Seele denselben Weg druchmißt, den sie nach dem Tode wandeln wird." "Mithras ist auf dem Weg ihr Begleiter ... Die Teilnahme am heiligen Mahl, die Kommunion, bestärkte dann den Mysten im Glauben an das Geschaute und in dem Kultbild der Stiertötung erblickte er das Bild der Auferstehung ... Wie Mithras selbst ‚der Gerechte’ heißt, so stellte er auch an seine Anhänger gewisse sittliche Anforderungen. Das Leben gilt als Prüfung, wobei Widerstand gegen die Sinnlichkeit, Streben nach Reinheit, auch auf dem Wege der Askese, Mut und Tatkraft gefordert werden."(19)

Offenbar entwickeln die Menschen in der Zeit des Hellenismus durchweg eine pessimistische Perspektive auf ihre Zeit, verstärkt durch viele Kriege, zuletzt den 100-jährigen Bürgerkrieg in Rom bis zur Herrschaft des Augustus; Hand in Hand damit ging eine Auflösung der Polis wie des Charakters der Einzelvölker im Weltreich – das Heil wird, wie es die Stifter der Hochreligionen auf Basis einer einseitigen Vernunftperspektive aufzeigen, nicht mehr im Schein des Diesseits erwartet, sondern im "wahren Sein" des Jenseits.

Was an dieser Entwicklung hin zum Monotheismus und der Gestalt des Soter ist um Gottes willen ausgerechnet "vernünftig", werden Sie fragen?

Nun, die reflektierende Denkstruktur der Vernunft sucht auch hinter den überlieferten Göttern das "Wesentliche", das "göttliche Wesen", wie dies alle Hochreligionen und vor allem die griechische Philosophie vorführen: das "summum bonum" der Vernunft. Dieses ist "reiner Geist", wie es denn auch Johannes 1,1 formuliert (und zwar auf griechisch):

Dies ist nichts anderes als das, was schon Platon und Aristoteles sagten:

"Das erste Wesenswas hat aber keinen Stoff, denn es ist wirkende Vollendung ... Sich selbst also erkennt die Vernunft, wenn anders sie das Beste ist, und die Vernunfterkenntnis ist Erkenntnis ihrer Erkenntnis ... So verhält sich die Vernunfterkenntnis ihrer selbst (der göttlichen Vernunft) die ganze Ewigkeit hindurch."(20)

Daß man diese Vernunfterkenntnis für "reinen Geist" hält, ist zunächst ganz natürlich: Die Denkergebnisse der Vernunft werden nicht wie die des Verstandes über die Sinne erworben, sondern allein durch die Innenwendung der Reflexion auf die im Verstand bereits vorhandenen Daten ("Erkenntnis ihrer Erkenntnis"). Dieses "reine Denken" der Vernunft mit Verstandesdaten – möglichst unter Abschaltung des Sinnlichen, das ja tatsächlich bei konzentriert-reflexivem Denken sich störend auswirkt – erzeugt im Denkenden ein anderes "Gefühl des Denkens" als etwa das Überprüfen sinnlich wahrgenommener Tatbestände. Es erzeugt ein anderes "Bewußtsein", und eben damit auch ein anderes "Selbst-Bewußtsein". Wie es schon Aristoteles sagte:

"Die Vernunfttätigkeit an sich aber geht auf das an sich Beste, die höchste auf das Höchste. Sich selbst erkennt die Vernunft in der Teilnahme am Intellegiblen; denn intellegibel wird sie selbst, den Gegenstand berührend und erfassend, so daß Vernunft und Intellegibles dasselbe sind. Denn die Vernunft ist das aufnehmende Vermögen für das Intellegible und das Wesen. Dies festhaltend wirkt sie [ihre Wirklichkeit]. So ist jenes [Intellegible und sein Wesen] größer als das, was die Vernunft Göttliches zu haben scheint, und die Betrachtung ist das Angenehmste und Beste. Wenn sich nun so gut, wie wir zuweilen, der Gott immer verhält, so ist er bewundernswert, wenn aber noch besser, dann noch bewundernswerter. So verhält es sich in der Tat. Auch ist er gewiß Leben; denn der Vernunft wirkende Tätigkeit ist Leben, jener aber ist die wirkende Tätigkeit, seine wirkende Tätigkeit an sich ist bestes und ewiges Leben."

Nach Platon ist es allein die rein geistige Innenschau der Vernunft im Unterschied zum sinnlichen Verstand, die "abgeschieden" von diesem in eigentätiger Erkenntnis in Verbindung zum "wahren Sein" gelangen kann.(21)

Aristoteles zieht daraus die Konsequenz, in einer ungeheueren Sammeltätigkeit alle Bestände des Wissens in Natur und Kultur zu sichten, zu klassifizieren und zu reflektieren, um das "wahre Wesen" der seienden Dinge auf allen Gebieten festzustellen – der Beginn der Naturwissenschaften.

Andererseits wird schon beim späten Platon in den "Gesetzen", wohl auf orientalischen Einflüssen basierend, ein Dualismus von Gut und Böse eingeführt, der sich im Christentum mit den negativsten Folgen bemerkbar machen wird – ebenso findet sich bei ihm der Dämonenglaube, der in den kommenden Jahrhunderten ins Uferlose wachsen wird. Je weiter der Allgott im Hellenismus aufsteigt, desto größer wird der Zwischenraum zwischen diesem Gott und dem Menschen, und dieser wird einerseits aufgefüllt mit dem Soter, zum anderen mit verschiedenen Stufen von Dämonen, die den Verkehr zwischen Gott und Mensch regeln.

Plotin

Diese Entwicklung erreicht ihren Höhepunkt im Neuplatonismus: Plotin (205 in Ägypten geborener Grieche, gest. 270) systematisierte die Gedanken dieser letzten Form der griechischen Philosophie, die sich aus einer Vermischung von platonischem und aristotelischen Denken, stoischem und pythagoräischem Gedankengut und dualistischen orientalischen Einflüssen zusammensetzte. Mit den Worten von Wilhelm Nestle, dem Nestor der deutschen Altertumsforschung des vorigen Jahrhunderts:

"Freilich besteht auf dem Standpunkt Plotins zwischen Philosophie und Religion überhaupt kein Unterschied mehr. Seine Philosophie ist seine Religion und auch die gesamte Volksreligion in allen ihren Teilen, ihren Mythen und ihrem Kultus, wird erst durch diese Philosophie in das richtige Licht gerückt, die ihren tiefen Sinn enthüllt. Es handelt sich bei Plotin in letzter Linie nicht sowohl um die Erkenntnis des Objekts, der Außenwelt, als vielmehr um die Beseligung des Subjekts durch die Erkenntnis. Die vollendete Erkenntnis wird aber nicht mehr durch das Denken erreicht, sondern durch die mystische Vereinigung der Seele mit der Gottheit: so geht hier die Philosophie in religiöse Mystik über.

Aus dem absoluten, qualitäts- und ausdehnungslosen, unbewegten Eins leitet Plotin den Geist, aus diesem die Weltseele und aus ihr die Einzelseelen und die sichtbare Welt ab. Diese ist als das Reich der Vielheit und Zertrenntheit nur ein Zerrbild der im Geist beschlossenen intellegiblen Welt der Ideen und Formen, und es wird ihr daher nur eine relative Schönheit zuerkannt. Sie ist eine Mischung aus Geist und Notwendigkeit: das Gute darin stammt vom Geist, das Schlechte und Böse aber ist die vom Geist noch nicht geformte Materie ..., die letzte Stufe in der absteigenden Linie der von dem Einen ausgehenden Wirkungen. Diese Gleichsetzung der Materie mit dem Schlechten und Bösen ist der Angelpunkt des plotinischen Systems, dessen scheinbarer spiritualistischer Monismus sich hier in Wirklichkeit als der alte, im 6. Jahrhundert v. Chr. durch die Orphik in das griechische Denken hereingetragene Dualismus, nur in verfeinerter Form, entpuppt."(22)

Ist das Irdische das Schlechte – denken Sie auch an die Schein-Natur und das Leiden alles Seienden im Buddhismus! – so kommt alles darauf an, diesem in die Seligkeit Gottes zu entfliehen; dementsprechend finden wir hier sowohl die Seelenwanderung entsprechend den Taten ebenso wieder wie eine Ethik, die vor allem auf die Reinigung der Seele von der Befleckung durch den Körper abstellt. Kontemplatives Denken und Askese sind zwar Mittel, sich über die Sinnlichkeit zu erheben, genügen aber nicht; "das Letzte und Höchste, was der Mensch erreichen kann, [ist] die Vereinigung der Seele mit dem Absoluten in der Ekstase ... Denn nicht um ein Erkennen oder Wissen handelt es sich hier, sondern um ein Schauen und Erleuchtetwerden durch die Gegenwart des Absoluten selbst, so daß Gott in der Seele und die Seele in Gott ist"(23) Damit schließt sich der mystische Kreis – Sie sehen, dies ist die identische Aussage wie die bereits aus der Bhagavadgita zitierte: "Die liebend mich verehren, die sind in mir, in ihnen ich."

Die Vernunftreflexion auf die Daten der Verstandesreligion zieht überall die gleichen "Schlüsse", alle Menschen zeigen sich ihr "vor Gott" als "wesensgleich" – die Hochreligion verdankt sich der nämlichen Entwicklung wie zuletzt unsere "Menschenrechte". Gleichzeitig haben wir gesehen, daß sämtliche "Ingredenzien" des Christentums: wie Trinität, Sohnesgeburt, Heiland, Erbsünde, Taufe, Abendmahl usw. nicht seine eigene "Erfindung" sind, sondern aus dem vorhandenen Traditionsbestand der hellenistischen Entwicklung aufgegriffen wurden. Das Christentum mußte sich diese amalgamieren, um in seine Zeit wirken zu können. Ein entscheidender Unterschied – neben der Tatsache, daß Konstantin ausgerechnet diese Religion zur Staatsreligion des Reiches machte, in deren Namen er siegen wollte, offenbar versprach er sich davon wohl die meisten "Heerscharen" – ein Unterschied zu den konkurrierenden Systemen des Mithraskultes, Neuplatonismus oder Gnosis und der Grund des Sieges über diese ließe sich vielleicht darin finden, daß sich die christliche Religion von Anfang an ernsthaft mit der klassischen griechischen Philosophie eines Platon und Aristoteles verbunden hat. Damit wurde dieser Lehre über die Kirchenväter ein philosophisches Grundgerüst eingezogen, das über den Einzug des mythisch-mystischen Aberglaubens hinaus dennoch die eigentlichen Grundaussagen der klassischen Philosophie bewahren ließ. Und so nimmt es zuletzt nicht Wunder, daß über die Scholastik kulminierend im Mystiker Eckhart all diese von außen eingedrungenen Bestandteile in der Anwendung dieser klassischen Philosophie auf die eigene Religion wieder aufgelöst wurden. Mit ihm kehrt die christliche Mystik wieder zurück zu einem reinen Idealismus des Geistes, wie ihn Platon und Aristoteles formuliert hatten.

Die "unio mystica"

In allen Formen der Vernunftmystik haben wir gesehen, daß deren Ziel die "Einung" mit dem Göttlichen ist, bei Buddha und etwa im Zen auch Erleuchtung genannt, anders ausgedrückt, das "Eintauchen ins wahre Sein", das im asiatischen Raum negativ als Nirwana, im Abendland positiv als "Sein an sich" vorgestellt wird. Wie können wir diese "unio" rational verstehen, wenn wir dieses Phänomen rein funktional betrachten?

Schauen wir uns dazu zunächst die wichtigsten Kriterien an, die von den Mystikern völlig gleichbleibend, wenn auch in den jeweiligen Metaphern, die aus dem unterschiedlichen Traditionsrahmen stammen, variierend beschrieben wird.

a) Zunächst bedarf es dazu der "Abgeschiedenheit", des Durchlaufens des "Edlen achtteiligen Pfades", der vorbereitenden Meditation – d.h., in der Vorbereitung muß sich das Individuum allein auf sich selbst konzentrieren und dabei alle sinnlichen und gedanklichen Eigeninteressen auf Null fahren: es muß "zu Nichts" werden, und in eben dieser "Nichtigkeit" soll es offen werden für das "Göttliche".

b) Wenn es der "göttlichen Gnade" gefällt, fällt dem so Vorbereiteten der erleuchtende Durchbruch zu; "Gott" eint sich mit ihm und umgekehrt. Dieser Durchbruch wird als "heiß" und "umwerfend" erlebt, ein Erleben höchster Intensität und Energie.

c) Diese Erleuchtung läßt im Erlebenden eine neue Sicht des Seins aufscheinen, ist umstellende Erkenntnis; in der Erfahrung des "göttlichen Wesens" wird zugleich das "einheitliche Wesen der Welt" geschaut und oft miteinander identifziert. Daher die Nähe aller Mystiker zum Pantheismus.

Platon: "Denn es muß der Mensch um das Allgemeine wissen und aus den vielen Wahrnehmungen vernünftig das Eine zu sammeln verstehen: das ist seine Erinnerung an jene hohen Dinge, welche die Seele schaute, da sie mit dem Gotte zog und ... den Blick zum wahren Sein gehoben hatte [= Wesensschau]... Er [der Philosoph] tritt heraus aus allem Wirrsal und Bemühen der Menschen und gehört ganz seinem eigenen göttlichen Leben [= Abgeschiedenheit]. Die Menge aber zeigt auf ihn mit dem Finger und schreit: ‘Er ist ein Narr, seht, ein Narr’, denn die Menge weiß nicht, daß der Gott ihn entzückt [= Erleuchtung]."(24)

Übersetzen wir diese metaphysische Sprache der Vernunftmystiker in diejenige des "neutralen Beobachters", der diese mystischen Äußerungen auf konkrete Gehirnfunktionen und daraus gebildeten Vermögensinterpretationen zurückführt:

Zu a) Diese erste Stufe als Vorbereitung zur "unio mystica" gehört dem Individuum an: Indem es mittels seiner Vernunftreflexion die Flüchtigkeit aller seienden Dinge erkennt, die gerade in ihrer Flüchtigkeit das Leiden bewirken, weil Verstand und Emotio sie festhalten möchten, entfernt sich der Vorbereitende von allem Sinnlichen und konzentriert sich auf sich selbst. Dies bedeutet zunächst eine ethisch-entsagende Grundhaltung im "normalen" Leben selbst, frei von allen "Leidenschaften". In der eigentlichen "mystischen Situation" werden alle Gedanken, die auf Welt und Mensch gerichtet sind, zum Schweigen gebracht. Dazu werden von den einzelnen mystischen Richtungen verschiedene Techniken empfohlen, von Atemübungen bis zum Gebet, vom widerstandslosen Einströmen-Lassen der Natur bis zu körperlichen Übungen.

Zu b) Der Durchbruch der "göttlichen Gnade", die eigentliche "Erleuchtung" ist, ausgehend von der hier vertretenen monistischen Auffassung, ein Geschehen im Gehirn des Mystikers, das über das limbische System ein Maximum an positiver emotionaler Bewegung = Ausschüttung von Endorphinen bewirkt und eine ähnliche Selbstauslöschung der rationalen Ich-Vorstellung wie der Orgasmus des Sexualverkehrs auslöst. Das rationale Bewußtsein wird im Wortsinne "überflutet". Es ist daran zu erinnern, daß in frühen Zeiten alles Geschlechtliche sicherlich aus dem nämlichen Grunde als "heilig" bewertet wurde.

Das "punctum saliens", das auslösende Moment, das der Mystiker mit "Gnade" umschreibt, weil er die "Einung" als ein Gegebenwerden erlebt, ist funktionell sicherlich auf unterschiedliche Faktoren zurückzuführen. Hier interessieren weniger jene Fälle, in denen offenbar ein plötzliches "Umgeworfenwerden" auftritt, wie etwa bei Paulus oder Dostojewski – denn hier scheint eine anomale epileptische Veranlagung beteiligt zu sein. Wichtiger ist ein Versuch der Erklärung der "regulären Erleuchtung", wie sie etwa von einem Buddha und Eckhart, im Zen-Buddhismus oder auch Platon beschrieben werden. Was geht hier vor?

Nun, sicherlich wird hier tatsächlich im Bewußtsein des Individuums eine Art "Durchbruch" erlebt, der eine funktionale Basis hat. Es gelingt dabei offenbar eine Art Aufbrechen verkrusteter (= bisher festverdrahteter) Ich-Strukturen, die das Ich über seine bisherige Sehweise hinausführen – eine neue Einung innerhalb der Gehirnstrukturen des Individuums mit sich selbst, indem sich die neuronale Netzstruktur auf neue und "höhere" Weise zusammenschließt und eine einheitliche Weltsicht aus dem "höheren Vermögen" Vernunft heraus gewährt. Anders ausgedrückt: In diesem Auf-Bruch wird die bewußte Leitungsebene des Individuums aus den vorliegenden Schichten Emotio und Verstand überführt in das Vernunft-Vermögen – die mit diesem als höchste gesetzte (und als solche auch vom limbischen System dann mit entsprechender Schüttung bedachten) Werte – und im Falle der Vernunft ist dies ja ein Wert, das "summum bonum" – bestimmen nun das Individuum und sein Bewußtsein von sich. Dieser Aufbruch löscht dann tatsächlich das "alte Ego" aus, erlebt wird ein "Neu-Werden", und dies unter konzentriertester Schüttung des limbischen Systems: "Feuer, Feuer", schreibt Pascal, und näht sich die Niederschrift seines Erleuchtungserlebnisses, das berühmte Memorial, in seinen Mantel ein, um es stets bei sich zu tragen. Und genau diese konzentrierte Schüttung des limbischen Systems ist es, die dem Individuum einerseits die subjektive Gewißheit der "Richtigkeit" und "Wahrheit" seiner Erleuchtung vermittelt und es gleichzeitig in dieser neuen Vernetzung mit der Reflexionsstruktur befestigt.

Daß dieser Durchbruch als "gegeben", als "Gnade" erlebt wird, beruht sicherlich auf einem alten Reflexmechanismus, wie Emotio, Verstand und Vernunft neuronale Verknüpfungen herstellen. So, wie der Pawlowsche Hund bei der Glocke sein Futter erinnert, ebenso sucht der Mensch des Verstandes für alles Geschehen äußerlich-sinnliche Wirkursache-Folge-Verkettungen – für die sich nach innen wendende Vernunft wird die Kausalursache der "Wesenheiten" im "innerlichen Über" geortet, parallel dazu, wie sich Vernunfteinsicht der des Verstandes überordnet – und so ist "Gott" notwendig das "höchste Wesen": der Spender jenes "Lichtes", das dem "Erleuchteten" zuteil wurde ...

Zu c) Die durch das limbische System und dessen intensive Bewertung hergestellte Befestigung wiederum bewirkt eine Existenzumstellung; gegenüber dieser neu erworbenen reflexiven Sicht und Bewertung des Seienden ist kein Ausweichen möglich, das Ich des Mystikers hat seine "Wahrheit" gefunden, "Sein" und "Denken" stimmen für es auf seinem individuellen Erkenntnismaximum überein. Daß dieses Erkenntnismaximum tatsächlich aber nur individuell und nicht auf immer gleicher "Höhe" ist, ergibt leicht eine Durchmusterung der verschiedenen Typen von Mystikern und vor allem auch Mystikerinnen... Jede Form der Mystik ist so grundsätzlich ein rein subjektives Phänomen, das zwar für den Mystiker als persönlichkeitsbildendes Moment von großer Bedeutung ist, objektiv und Intersubjektiv aber keine eigentliche Bedeutung hat, worauf denn auch die Unaussprechlichkeit des ganzen "Vorgangs" hinweist.

Krishnamurti

Die Unhaltbarkeit dieser Vernunftmystik habe ich ausführlich bereits in meinem letzten Vortrag zu Meister Eckhart (dort S. 26 ff.) dargestellt; zum Schluß sei dies nochmals an einer modernen Variante gezeigt, die vor kurzem von dem deutschen Modephilosophen Peter Sloterdijk in der ZDF-Serie Philosophie im Glashaus anläßlich einer Sendung zur Willensfreiheit offensichtlich sehr positiv "beworben" wurde: Jiddu Krishnamurti (1895-1986) ist einer jener indischen Mystagogen wie etwa auch der sattsam bekannte Baghwan, die insbesondere westlichem Sinnverfall und Reflexionsmüdigkeit mit genau jener Mystik entgegenkommen, die wir soeben von Laotse bis Plotin kennengelernt haben. In seinem Buch "Einbruch in die Freiheit"(25) greift er auf die bekannte meditative "Bewußtseinserweiterung" zurück, das rationale Denken wird denunziert – es ist mir immer sehr merkwürdig, wenn sich die Rationalität von sich selbst verabschiedet, aber dies ja wieder in ihrem eigenen Medium, eben im Denken selbst. Nur solange ich noch irgendwie "denke", macht die Selbstaufgabe der Ratio Sinn, weil sie ansonsten zu einem reinen Empfindungsbewußtsein führen würde, wie wir es bei den höheren Tieren antreffen – diese Bewußtseinseinschränkung "nach unten" kann aber wohl kaum das Ziel einer Bewußtseinserweiterung sein. Mithin haben wir es hier mit einem unaufheblichen Selbstwiderspruch zu tun. "Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß", könnte man auch hier sagen: "Denken ohne Gedanken" wird angestrebt, da der Gedanke "verschlagen, listig und unredlich" und "immer alt" sei. Das faustische "Augenblick, du bist so schön ..." fällt einem dabei ein. Offensichtlich wird eine Metaebene zum rationalen Denken postuliert, die dennoch "das Geistige" nicht ausschließt – woher wüßte ansonsten der sich hier Mitteilende über all diese schönen Dinge und könnte sich in Form "alter Gedanken" darüber äußern?

Im Gegensatz zur "Energie", die hier für das göttliche Medium steht, sei der Gedanke selbst noch Materie, eine Sache des "alten Gehirns", der den Kontakt zu dieser "Energie" in "reiner Gegenwärtigkeit" verhindere. Frei aber werde der Mensch, indem er sich von all seinen Gedächtnisinhalten löse, so daß "die Gehirnzellen selbst frisch, jung, unschuldig werden". "Ein lebendiger Geist ist ein stiller Geist, ein lebendiger Geist ist ohne Zentrum, und daher frei von Raum und Zeit". "Solch ein Geist ist unbegrenzt, und das ist die einzige Wahrheit, das ist die einzige Wirklichkeit."

Meditation bestehe nicht etwa in "Mantra-Yoga" oder ähnlichen wiederholenden Übungen, sondern bedeute, "eines jeden Gedanken gewahr zu sein", diese "einfach zu beobachten und ihnen nachzugehen; zu verstehen, "daß alles Denken niemals ungebunden ist, sondern immer mit Vergangenheit beladen ist – dieses Schweigen ist Meditation". Genau dies sei der Zustand des religiösen Menschen als "unmittelbarer Wahrnehmung", der deshalb keinerlei religiösen Glauben innehabe.

Nun, diese alten Gedanken in neuen Worthülsen sollten uns nur allzu bekannt sein, Eckhart hat auch nichts anderes gesagt, und dies gilt genauso für die "unio mystica". Krishnamurti: "Solange ein Zeitintervall zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten besteht, erzeugt es Reibung und damit Energieverschwendung. Die Energie erreicht ihren Höhepunkt, wenn der Beobachter das Beobachtete ist und damit zwischen beiden kein Zeitintervall mehr besteht. Dann ist die vorhandene Energie ohne Motiv und wird zur reinen Handlung, weil kein ‚Ich’ mehr existiert." Dies ist bei Licht betrachtet nichts anderes als das "Eins-Sein" des Menschen in Gott im Aufleuchten des "Seelenfünkleins", wo sich Gott in die Seele des Menschen und der Mensch in Gott hinein gebiert, wie dies Eckhart unter Gebrauch eines ebenfalls "energiegeladenen" Bildes zu beschreiben sucht. Und wie in all diesen mystischen Überhebungen der Vernunft beruft sich auch Krishnamurti auf den Solipsismus des Glaubens, wenn er jegliche intersubjektive Nachprüfbarkeit ausschließt. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß er sich dabei an den modernen Sprachgebrauch anzuschließen sucht, wenn er sich angesichts des "alten Gehirns" fragt, "ob es möglich ist, eine Mutation unmittelbar in den Gehirnzellen hervorzubringen": alter Wein in neuen Schläuchen.

Vielmehr ist auch hier der alte Platonismus deutlich zu erkennen, der das einzig wahre Sein, wie es die Vernunft über sich selbst hinaus postuliert, höher schätzt als die seienden Dinge selbst: "Im geistigen Zustand des religiösen Menschen gibt es keine Furcht und daher keinerlei Glauben, sondern das, was ist – was tatsächlich ist." Schön gesagt, nur steht hier die Welt platonisch auf dem Kopf, indem die "Tatsächlichkeit", die "Wirklichkeit" in die "energetische Gleichzeitigkeit des reinen Seins" verlegt wird. Alles, was Sinne, Verstand und reflektierende Vernunft als "alte Gedanken" – was bei den Altvorderen "Erscheinung" hieß – dazu zu sagen hätten, stört bei dieser Art von "Wirklichkeitswahrnehmung" und ist deshalb ausgeschlossen. Auch hier noch – und damit komme ich zum Ende – der eingangs konstatierte und seit 2.500 Jahren anhaltende Widerspruch zwischen Verstand und Vernunft im Menschen, zwischen nur seiendem Schein und wahrem Sein, Nominalismus und Realismus, Empirismus und Idealismus.

Zwar werden aus dem menschlichen Genpool und der dadurch bedingten geistigen Entwicklung – wie die Beobachtung gerade auch heute zeigt – trotz aller Bildungs- und Aufklärungsmöglichkeiten die meisten Individuen einer Generation sowohl für die aberglaubensbefangene Volksreligion ebenso wie für das metaphysische Gedankengut der Hochreligion und der damit verbundenen Mystik anfällig bleiben. Doch sowohl seitens der Philosophie selbst als auch durch das Eindringen der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse auf dem Gebiet der Genetik wie der Neurobiologie in diese ist im Hinblick auf die phylogenetische Tradition das "Ende der Metaphysik" längst eingeläutet. Emotio, Verstand und Vernunft werden nicht mehr als gegeneinander stehend begriffen, sondern als sich wechselwirksam bedingende Erkenntnisvermögen; erst eine Gesamtschau des Menschen, die auch noch dessen Vegetativum und seine Instinktsteuerung mit einbegreift, liefert ein Bild dessen, "was wirklich ist" und ermöglicht einen Aufbruch in die Freiheit als Selbstverantwortung, Gleichzeitigkeit mit sich selbst; als das bewußte Verständnis dessen, was der Mensch phylo- und vor allem ontogenetisch tatsächlich ist.

Anmerkungen:

(1) Karl Jaspers, "Vom Ursprung und Ziel der Geschichte": Es sei "für alle Völker ein gemeinsamer Rahmen geschichtlichen Selbstverständnisses erwachsen. … Es entstand der Mensch, mit dem wir bis heute leben." S.a. Zeittafel, Erläuternde Zitate

(2) Dieser Begriff geht zurück auf den Hermes Trismegistos, dem in der Gnostik als Mittler zwischen Gott und Mensch eine Sammlung geheimer (unzugänglicher, "verschlossener") Schriften zugeschrieben wird.

(3) So setzt etwa Heidegger im "Humanismusbrief" die "Seinsverborgenheit" mit einer derzeitigen "Abwesenheit des Heiligen" gleich.

(4) Laotse, Tao te king (Das Buch [king] vom Sinn [tao] und Leben [te]), übersetzt und mit einem Kommentar von Richard Wilhelm (1910/1925), Eugen Diederichs Verlag, München 1978, 1989, S. 41

(5) s. meinen Vortrag "Mystik – Schwärmerei oder überbewußte Erfahrung? Ein Versuch zu Meister Eckhart" vor der GKP vom 29.10.2003, im Internet zugänglich unter www.hwalther.de. Insbesondere die scholastische Mystik wird dort eingehend dargestellt und bewertet.

(6) S. dazu: Gustav Mensching, Die Weltreligionen, Drei Lilien Verlag, Wiesbaden 1981, S. 115 ff. und Atlas der Weltreligionen, Hg. v. Peter B. Clarke. 60 Stücke der Upanishaden wurden von Paul Deussen, dem Freund Nietzsches, ins Deutsche übertragen.

(7) Mensching aaO., S. 142

(8) Mensching aaO., S. 143

(9) Atlas der Weltreligionen, S. 136

(10) Mensching aaO., S. 144

(11) "Lehre der Ältesten" bzw. "kleines Fahrzeug" im Gegensatz zum Mayahana, dem "großen Fahrzeug" der späteren Zeit.

(12) Mensching aaO., S. 45

(13) Mensching aaO., S. 75, 74

(14) Parmenides, Über das Sein, Reclam Nr.7739[3], Stuttgart 1981, S. 9f., = Diels/Kranz 28 B 6,7,8

(15) "Als eine mater dolorosa sucht und findet sie den Leichnam ihres getöteten Gatten. Als Himmelskönigin, mit dem dunkelblauen, sterngezierten Mantel bekleidet, trägt sie, wie die christliche Himmelskönigin, die Mondsichel als Hauptschmuck ... und mit dem Horusknaben auf dem Arm wird sie das künstlerische Vorbild der Madonna." Wilhelm Nestle, Griechische Religiosität von Alexander dem Gr. bis auf Proklos, Verlag de Gruyter, Berlin 1934, Sammlung Göschen 1080,S. 43

(16) Nestle, Griechische Religiosität, S. 19

(17) Nestle, Griechische Religiosität, S. 32 f.

(18) Nestle, Griechische Religiosität, S. 41 f.

(19) Nestle, Griechische Religiosität, S. 52 f.

(20) Aristoteles, Met. 1072 a 25 - 1075 a 10

(21) Noch Eckhart hat sich genauso geäußert, wenn er ausführlich über die "Abgeschiedenheit" predigt. Der unter Anm. 3 genannte Vortrag gehört mit diesem Referat durchaus zusammen, insbesondere die dortigen kritischen Bemerkungen zur Vernunftmystik unter II. auf S. 26 ff..

(22) Nestle, Griechische Religiosität, S. 158 f.

(23) Nestle, Griechische Religiosität, S. 161

(24) Platon, Phaidros, 249 c

(25) Jiddu Krishnamurti, Einbruch in die Freiheit, Ullstein Sachbuch, (1969) 19. Aufl.1996, S. 87 ff.