Deutscher Originalartikel aus der Diskussion des Karl Jaspers Forums im Internet
(http://www.mcgill.ca/douglas/fdg/kjf/)
Original-Titel: KARL JASPERS FORUM TA24 C28 CONSTRUCTION, REALITY, AND ETHICS

KARL JASPERS FORUM TA24 Kommentar 28

von Ernst von Glasersfeld 11. August 2000, versandt 5 September 2000

KONSTRUKTION, REALITÄT, UND ETHIK

<0> Obwohl Helmut Walther seinen Commentar TA24C26 überschreibt, daß dieser sich nicht nur auf Herbert Mullers TA24R15 beziehe, sondern auch auf mein TA24C22, bin ich nicht in der Lage, einen direkten Bezug aufzufinden zu dem, was ich dort schrieb. Er sagt, daß er hauptsächlich bestrebt ist, ein "Licht auf unsere unterschiedlichen Ansichten zu werfen" <1E>. Ich nehme deshalb an, er bezieht sich auf meine Position, wo immer er insbesondere "Konstruktivismus" sieht. Er bringt eine Anzahl von Punkten, auf die ich zu antworten beabsichtige, weil diese m.E. meine Position in unakzeptabler Weise präsentieren. Ich möchte klarmachen, daß ich für mich selbst spreche, und daß HM, der schon länger antwortete betreffs der "Geist-Gehirn"-Beziehung, wohl nicht damit übereinstimmt, was ich sage. Meine Antwort erfolgt in Englisch, weil die Punkte zu Tragfähigkeit und Ethik, die ich aufgreife, aus der Diskussion im KJF erwachsen.

TRAGFÄHIGKEIT UND ETHIK

<1> Ich denke, die Nebeneinanderstellung von "besser" und "mehr Tragfähigkeit" (C26<1E>) ist symptomatisch für ein Mißverständnis, das, denke ich, viel von HWs Text durchzieht. Ich verstehe "besser" als bezogen auf eine Skala von Werten, wohingegen ich "Tragfähgkeit" benutze als eine doppelte empirische Eigenschaft. Wenn ich zwei Wege gefunden habe, um von meinem Haus zur Bibliothek zu gelangen, sind beide gangbar; manchmal mag ich Route A bevorzugen, weil sie schneller ist; und zu anderer Zeit wähle ich Route B, weil der Weg angenehmer ist. Ich würde mich falsch ausdrücken, wenn ich, etwa auf Grund einer Stimmung, sagte, einer der Wege sei "mehr tragfähig".

<2> Werte wie "Güte" (ethisch oder andere), "Schönheit" (ästhetisch oder übertragen) werden durch eine Wahl ausgelöst, die rational nicht begründet werden kann. Die Wahl von jedermanns letzten Zielen ist eine Sache von Ethik, nicht von praktischen Überlegungen. Tragfähigkeit, im Gegensatz dazu, ist ein Konzept, das nicht angewandt werden kann auf ethische Werte, weil es sich auf die Durchführbarkeit und den Erfolg erstreckt, ein einmal ausgewähltes Ziel zu erreichen.

<3> Die Vermischung von Werturteilen mit der Einschätzung der Tragfähigkeit kommt weiter besonders unangenehm auffallend zum Vorschein, wenn HW behauptet, daß der Begriff des "als ob" ethisch gefährlich sei (letzter Paragraph von C 26 <5>). Ins Englische übersetzt verläuft seine Argumentation folgendermaßen:

"Menschen untereinander und Dinge verkehren in letzterem Falle nur "als-ob", auch ethisch gesehen eine gefährliche Anschauung. Dies um so mehr, als dadurch auch die einzige Entscheidungsmöglichkeit, die der "Tragfähigkeit", ja selbst in einer solchen Theorie nur ein "als ob" sein kann, die durch jeden anderen "0D-Interpretations-Schritt" eines individuellen Subjekts einfach ausgehebelt zu werden vermag. Unterliegt doch auch dies Kriterium dem Subjekt, etwa einem Subjekt namens Hitler, der unter Verweigerung aller von seiner Subjektivität unabhängigen Realität dann sehr wohl behaupten kann, daß er eine ganz neue "Tragfähigkeit" entdeckt habe, etwa "Blut, Boden und Rasse". Unter der Annahme des Konstruktivismus gibt es dann aber keine andere Möglichkeit, als dies in einer "als-ob-Realität" auszutesten, statt eine solche Perversion unter Verweis auf real existierende Menschen (die mehr sind als "als-ob-Menschen") und deren Werte (die mehr als eine "als-ob-Gültigkeit" haben) zurückzuweisen."

Ich will versuche, leidenschaftslos zu bleiben, obwohl diese Behauptungen über den Konstruktivismus mehr als nur ein wenig verstörend sind.

<4> Am Beginn seines deutschen Textes sagt HW, daß in einer hypothetisch interpretierten Welt ein Zugewinn von Wissen nur gemessen werden kann in Begriffen der Tragfähigkeit solchen Wissens im realen Wettstreit. Er stimmt überein, daß die Möglichkeit von "objektiven", ewigen "Wahrheiten" auf beiden Seiten ausgeschlossen ist, d.h. bei ihm ebensogut wie bei HM und bei mir selbst (C26<2>).

Wenn "Wahrheit" nicht relativ zu einer unabhängigen Realität abgeschätzt werden kann, dann können Menschen – einschließlich "eines Subjekts wie Hitler" – nicht unrecht handeln im Versuch, ihre Konzepte und Theorien praktisch auszutesten, d.h., in der Erfahrungsrealität, die sie für sich selbst geschaffen haben. Wenn der "reale Wettbewerb", den HW anspricht, Krieg einschließt, würden wir jetzt, in der Retrospektive, schließen, daß Hitler darin scheiterte, die Tragfähigkeit seiner Ideen zu bestätigen. Aber es wäre ein gefährlicher Fehler anzunehmen, daß diese Niederlage die Nichttragfähigkeit seiner Ideen in allen möglichen subjektiven Realitäten beweist. Die Niederlage zeigt einzig, daß Hitler einen schweren taktischen Fehler beging. Wenn er sich anstatt des Überfalls auf die "freie Welt" darauf konzentriert hätte, einen undurchdringlichen Wall um Großdeutschland zu bauen, so hätte er den Glauben an die Tragfähigkeit seiner Ideen aufrechterhalten können, wenn nicht für 1000 Jahre, so doch für eine lange Zeit, denn die Mehrheit seiner Volksgenossen war seit 1933 bereit ihm zu folgen.

<5> HWs Entstellung des Konstruktivismus stammt aus zwei fundamentalen Mißverständnissen. Das erste ist, daß Tragfähigkeit innerhalb der "Als-Ob-"-Konstruktion eines Individuums "als ob" angesehen werden kann wie von der Perspektive einer anderen Konstruktion. Dieser Fehler ist analog zu dem Fehler, der oft in der Logik begangen wird. Manche glauben, daß die begriffliche Sicherheit eines syllogistischen Schlusses auch übertragen werden können muß auf erfahrungsgemäße Einzelheiten, von denen die Prämissen abstrahiert wurden. Ihre Lehrer haben ihnen offenbar noch nicht erzählt, daß die Prämissen bedingte Behauptungen sind und nur unter der Bedingung eines "Wenn" vorausgesetzt werden sollten. Der entgegengesetzte Fehler ist es zu sagen, man könne der Logik nicht trauen, denn in der Welt der praktischen Erfahrung sei nichts sicher. Dies mißachtet ebenfalls die Bedingtheit der Prämissen. Das "Wenn" schließt bewußt die Möglichkeit von beachtenswerten Einzelheiten aus, die nicht übereinstimmen mit der Beschreibung, wie sie in der Prämisse gegeben sind; das bedeutet, zum Zwecke des Syllogismus, die Prämissen POSTULIEREN, was sie sagen.

<6> Das zweite Mißverständnis ist, eine rationale Theorie des Wissens könnte ethische Prinzipien festlegen. Konstruktivismus ist sich ausdrücklich seiner Unfähigkeit dazu bewußt, im Gegensatz dazu verfälscht der Rationalismus im allgemeinen dieses Thema durch Ausflüge in die Metaphysik.

HW führt aus: "real existierende Menschen (die mehr sind als "als-ob-Menschen") und deren Werte (die mehr als eine "als-ob-Gültigkeit" haben)

Ich stimme grundsätzlich mit seiner Ansicht überein, aber ich weiß nicht, wie "existierend" zu definieren wäre. Jene Menschen, die ich kenne, sind so geartet, wie ich dies konstruiert habe auf Basis meiner Interpretation von Erfahrung, einschließlich meiner Interpretation davon, was ich darüber geschriebener Weise gesehen oder gehört habe. Sie sind ein wichtiger Teil der erfahrungsgemäßen Realität, ich weiß. Aber epistemologisch gesprochen, stimmten wir überein, dies als eine "als-ob"-Realität zu bezeichnen. Nur ein mystischer Glaube kann zu einer solchen Meinung des "mehr" in dem mitgeteilten Zitat führen. Es sei mir ferne, mich mit einem solchen Glauben auseinanderzusetzen. Tatsächlich teile ich ihn. Ich stimme mit Kant überein und glaube, daß Menschen nicht als Objekte betrachtet werden dürfen. Aber ich gebe nicht vor, daß dies rational gerechtfertigt werden kann.

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