Deutsche Übersetzung zum englischen Originalartikel aus der Diskussion des Karl Jaspers Forums im Internet
(http://www.mcgill.ca/douglas/fdg/kjf/)
Original-Titel: KARL JASPERS FORUM Target Article 24
CONCEPT-DYNAMICS AND THE HISTORY OF REALITY, SUBJECT, AND THE ENCOMPASSING by Herbert FJ Muller

KARL JASPERS FORUM Ziel-Artikel 24

BEGRIFFS-DYNAMIK UND GESCHICHTLICHE AUFFASSUNGEN VON
REALITÄT, SUBJEKT, UND DEM UMGREIFENDEN
von Herbert FJ Muller 1 / 24. Februar 2000, versandt 7. März 2000

Zusammenfassung:

[1] In früheren Beiträgen wurde darauf hingewiesen, daß der Glaube an eine geistunabhängige Wirklichkeit (GUW, oder genauer, "vom menschlichen Geist unabhängige strukturierte Wahrheit und Wirklichkeit") sich nicht verträgt mit dem rationalen Verständnis des Geist-Gehirn-Verhältnisses. Hier wird eine Anzahl von Stichproben von repräsentativen geschichtlichen Konzepten vorgestellt hinsichtlich ihrer Sicht von GUW und zweier zugehöriger Aspekte: subjektive Erfahrung, und dasjenige, was Jaspers das Umgreifende nannte. Die Frage von GUW wurde historisch in verschiedener Weise behandelt. GUW wurde oft als nicht einsehbar angesehen, weshalb man darüber zu schweigen habe, aber ihre Existenz wurde üblicherweise nicht angezweifelt. Andere versuchten darzutun, daß GUW einsehbar gemacht werden könnte, aber die Resultate solcher Versuche waren nicht überzeugend. Eine weitere mögliche Sehweise leitete sich her von der Überzeugung Vicos, Piagets und der Konstruktivisten: diese Konzepte und andere geistige Werkzeuge seien innerhalb der Erfahrung entstanden, und dies scheint einen gangbaren Weg zu versprechen, vorausgesetzt, einige begriffliche Mechanismen könnten geklärt werden.

[2] Die Ergebnisse dieser Übersicht werden vorläufig interpretiert als kompatibel mit den folgenden Beziehungen zwischen Begriffs-Funktionen und Erfahrung. Theorien und andere geistige Hilfsmittel überschreiten, in Bezug auf Dauer und Bedeutung, jede mögliche gegenwärtige Erfahrung, einschließlich wiederholender, kumulativer und kollektiver Erfahrung. Daher haben sie einen ihnen innewohnenden und deshalb unvermeidlichen "metaphysischen" (fiktiven) Aspekt, zuzüglich zu ihrer hier-und-jetzt-Bedeutung. Erlebte Erfahrung ist andererseits immer weitreichender als jede mögliche Theorie oder jedes Theorienpaket, das sich damit beschäftigt, mit den Erfahrungen umzugehen, und deshalb "umgreift" sie jene. Es ist möglich, diese zwei Aspekte einzubinden in den Verständnisprozeß mit Hilfe von "Arbeits"-metaphysischen Annahmen (oder als-ob-GUW), in welchen die Entitäten geistiger Natur verstanden werden als geformt innerhalb geschehender subjektiver Erfahrung, ausgehend von Strukturlosigkeit (Null-Ableitung, 0-D). Zum Umfang, wieweit dieses Vorgehen erfolgreich ist, könnte es helfen, die theoretischen Flip-Flops (Alternationen) zwischen pro- und antimetaphysischen Standpunkten zu vermeiden. Geist und Gehirn (oder Subjekt und Objekt), beides sind Formationen, entstanden innerhalb der Erfahrung, und ihre Beziehung zueinander kann prinzipiell recht einfach verstanden werden, wenn dies in Betracht gezogen wird.

Diese Darstellung legt daher hauptsächlich Wert auf "Begriffs-Dynamik", mehr als auf Philosophie und Epistemologie in einem weiterem Sinne. Wenn diese und verwandte Dynamiken beweisen, daß sie allgemein tragfähig sind, könnten einige Aspekte des Verstehens leichter verständlich werden.

Einführung

[3] Mein Interesse an diesem Thema rührt vom Problem der Geist-Gehirn-Beziehung her (siehe TA1). Dieses Problem betrifft eine grundsätzliche Begriffsfrage zusätzlich zu experimentellen Studien, aber dieser theoretische Aspekt wird oft vernachlässigt, oder aber als zu "schwierig", d.h., zu unbegreiflich empfunden. Der Hauptpunkt ist: menschliche Subjekte lassen sich nicht beobachten, als ob sie Objekte wären, aus einer Distanz vom Subjekt her. Dies wird gewöhnlich noch weiter kompliziert durch die Meinung, Objekte existierten geistunabhängig (hier ist die normale Realitätswahrnehmung vorausgesetzt etwa bei Steinen, Bäumen oder dem Mond; in neuerer Zeit erst sind neuronale Netzwerke und Mikrokanäle hinzugefügt worden). Bei ausschließlich objektiven Beobachtungen etwa soll der Geist (mind) geist-unabhängig real sein, was unmöglich ist, und entweder verschwindet er daher, oder er wird als nebulös bezeichnet, mithin im wesentlichen das gleiche Ergebnis. Versuche, dieses theoretische Problem zu lösen, machten wenig Fortschritte seit Haeckel im vorigen Jahrhundert.

Einige Definitionen

[4] Die Frage eines Glaubens an geistunabhängige Wahrheit und Realität, oder präziser, "geistunabhängig strukturierte Wahrheit und Wirklichkeit" (GUW), steht in Beziehung zu, ist aber nicht identisch mit Metaphysik und Ontologie. Eine kurze Definition traditioneller Metaphysik ist "Wissen, das die Erfahrung überschreitet" (eigentlich ist das ein Selbstwiderspruch, weil Wissen einzig von der Erfahrung herstammen kann: wir gehen hier mit Extrapolationen über unser Wissen hinaus um). Aber in ihrer Form von Ontologie ist Metaphysik zugleich verstanden als "Basis der Wirklichkeit", was merkwürdig ist, da ja in diesem Fall die Basis der Wirklichkeit als unzugänglich definiert ist, und der Versuch, diese Basis zu erreichen, in verwirrenden Versuchen endet.

[5] GUW ist ein eher restriktives Konzept als jene beiden, und in diesem Text möchte ich es eher aus einer "technischen" Perspektive behandeln als etwa aus der existentiellen. Das bedeutet nicht, daß der existentielle Aspekt unwichtig ist, aber die theoretische Frage muß eingeschlossen sein in die Erörterung des Themas. GUW-Glaube heißt die Meinung, Wirklichkeit und Wahrheit seien präkonstruiert außerhalb unseres Geistes. Ihr Gegenteil ist die Vermutung, daß alle geistigen Strukturen (Hilfsmittel) innerhalb der Erfahrung gebaut sind – das heißt, innerhalb des unbegrenzten und undefinierbaren subjektiven Teiles der Erfahrung (welche üblicherweise als "Bewußtsein" bezeichnet wird) – ausgehend vom Unstrukturierten: von der Null-Referenz oder Null-Ableitung , 0D, oder, um einen älteren Ausdruck zu gebrauchen, Konstruktion im Apeiron. Die Strukturen können dann behandelt werden, als ob sie geistunabhängig wären, gleichwohl wissend, daß sie dies nicht sind, d.h. als "als-ob-GUW". Und selbstverständlich ist dies nicht begrenzt auf einzelne Theorien, sondern erstreckt sich ebenso auf Systeme, Theorien oder Gesichtspunkte, die in ähnlicher Weise vom Nullzustand abgeleitet sind. Dies könnte helfen, Unstimmigkeiten zwischen verschiedenen Sehweisen zu untersuchen und sie auf ihren gemeinsamen Ursprung zurückzuführen.

Aber trotz der Unmöglichkeit eines Zugriffs auf sie, ist der Glaube an eine einfache GUW allgemein. Als Ergebnis finden wir uns selbst die meiste Zeit in einer schlimmeren Position als jene Blinden, der einen Elefanten zu beschreiben versuchen (diese stimmen wenigstens darin noch überein, daß da überhaupt etwas zu Beschreibendes vorhanden sei).

Historische Beispiele

[6] Wie wurde GUW und subjektive Erfahrung in verschiedenen wissenstheoretischen Sehweisen behandelt (bzw. vernachlässigt)? Einige Anmerkungen sollen dazu dienen, diese Frage in ihrem historischen Zusammenhang zu beleuchten. Da ich kein Philosoph bin, habe ich mich für viele Fragen auf Sekundärquellen zu verlassen, und mein Überblick wird daher wohl recht unvollständig sein und möglicherweise Fehlinterpretationen enthalten. Jedenfalls kann eine solche Verfahrensweise als Ausgangspunkt der Diskussion für daran Interessierte dienen. Irrtümer bitte ich im Voraus zu entschuldigen und ich wäre über entsprechende Korrekturen sehr erfreut, vermutend (oder letztlich sogar hoffend), es möchten einige Unstimmigkeiten in meinen Interpretationen und Schlüssen gegeben sein.

[7] Metaphysik und Ontologie sind seit über 2500 Jahren diskutiert worden, und so ist es unmöglich, das gesamte diesbezügliche Material in einem kurzen Artikel einzufangen. So habe ich mich auf eine geringe Anzahl von Autoren zu beschränken, insbesondere meine Darstellung zu konzentrieren auf Fragen (a) nach dem Glauben an GUW, (b) nach den verschiedenen Sehweisen der subjektiven Erfahrung, und (c) nach der Behandlung des "Umgreifenden" in ihrer Beziehung zur GUW.

[8] Dabei gehe ich nicht davon aus, daß diese Themen leicht vom weiteren Feld der Metaphysik abgegrenzt werden können, usw. Weiterhin versuche ich nicht, die jeweiligen Verdienste der verschiedenen Denker und Denkschulen zu beurteilen, sondern werde mich ausschließlich auf ihre Antworten zu den angeschnittenen Fragen beschränken. Ich würdige sehr den enormen Aufwand und die Sorgfalt, die von Philosophen, Wissenschaftlern und anderen in die Ausarbeitung der verschiedenen theoretischen Positionen investiert wurden, einschließlich vieler Autoren, deren Werke ich nicht gelesen habe. Aufgrund der Beschränkung der mir zu Verfügung stehenden Zeit diskutiere ich ausschließlich westliche Autoren (wobei die mittelalterlichen Autoren nicht berücksichtigt werden), ohne damit ausdrücken zu wollen, diese anderen Autoren seien weniger bedeutend. Mein Versuch ist daher augenscheinlich recht begrenzt, und sollte eher als stichprobenartig denn als systematisch betrachtet werden, jedenfalls hoffe ich, daß die gewählten Beispiele "repräsentativ" sind. (Wenn es von Interesse wäre, könnte man diesen Überblick noch erweitern.)

[9] Andererseits meine ich, daß ein interdisziplinärer Austausch über diese Punkte notwendig ist, weil sie sich nicht nur auf professionelle Philosophie oder Neurowissenschaften erstrecken, sondern weil wohl jedermann an den Geist-Gehirn-Beziehungen interessiert ist; wir benötigen sozusagen eine Philosophie für den Normalmenschen. Meiner Meinung nach ist die Selbstbeschränkung auf Fragen, die den verschiedenen Gebieten gemeinsam sind, durchaus angebracht, ohne zu versuchen, daraus weitergehende Schlüsse zu ziehen, etwa in psychologisch-reduktionistischer, existentieller, religiöser, ethischer, soziologischer, linguistischer Hinsicht und weiterer Verzweigungen bzw. Einordnungen, zumindest für den Anfang. Damit kann Unklarheiten in der Diskussion und unangebrachten Verallgemeinerungen aus dem Weg gegangen werden.

[10] Die Hauptfrage ("Test") wird daher sein, wie Forscher und Schulen historisch mit "Objekten", "Subjekten" und dem "Umgreifenden" umgegangen sind. Mit diesem Vorgehen versuche ich mich selbst zu orientieren, indem diese These auf das Schrifttum der verschiedenen Disziplinen (hauptsächlich der philosophischen) ausgedehnt wird, gleichzeitig in der Hoffnung auf Unterstützung von anderer Seite.

Altgriechische Wissenstheorie: Wie kann man von GUW etwas zu wissen bekommen?

[11] Parmenides von Elea sagt, Wissen (oder Denken) und Sein seien dasselbe, was vermuten lassen könnte, er habe die Wirklichkeit als irgendwie vom Geist erzeugt bezeichnet. Aber zumindest Platon verstand Parmenides nicht in dieser Weise: Das "Sein" (die zu erkennende Welt) war ohne Frage geistunabhängig, und dies blieb die vorherrschende Meinung. (Stattdessen fragte Parmenides: "Wie können wir über etwas reden oder denken, das nicht ist?") GUW war unausgesprochen vorausgesetzt, nicht in Frage gestellt. Das "Ich" des Parmenides war klassisch religiöser Art, er sah sich selbst als bewirkt von übernatürlichen (d.i. umgreifenden) Kräften seitens der Göttin Dike.

[12] Obwohl Sokrates sagte, er wisse, daß er nichts wisse, wollte er doch sich selbst und den Sinn des Lebens erkennen. Er diskutierte nicht die GUW, seine Lehre schloß jedoch die Unerkennbarkeit der vermuteten externen Wahrheit ein, und die konstante Notwendigkeit für das Individuum, Wahrheit zu bauen. Er wurde zum Tode verurteilt (wie später auch G. Bruno), weil er die hergebrachten religiösen Strukturen in Frage stellte.

[13] Platon suchte ebenfalls eine weltliche Quelle der Gewißheit mit Hilfe von Ideen oder Formen, was einen Typ von unzugänglicher GUW darstellt. Später nahm sein Idealismus ab und er meinte, daß man einerseits falsche Ideen haben könne wie man andererseits über die Existenz einiger realer Dinge sicher sein könne.

[14] Aristoteles behielt die platonische Einschätzung der Erkenntnis vom Allgemeinen und Realen bei, welche er als GUW verstanden zu haben scheint, allerdings ohne den Idealismus Platons (fälschlich: "ohne die Theorie der Formen"). Sein Denken war systematisch und er bildete ein etwas kompliziertes Schema der GUW aus, das einen Ersten Beweger beinhaltete.

Antike Skepsis: Wir können das An-sich-Sein der Realität nicht erkennen.

[15] Pyrrho von Elis fand heraus, daß wir über das An-sich-Sein der Dinge nichts wissen können (GUW), sondern nur von sich gegenseitig widersprechende Erscheinungen, und daher müßten wir uns des Urteils enthalten und darüber schweigen.

[16] In Pyrrhos Tradition betonte Sextus Empiricus ebenfalls (und im Gegensatz zu den "Dogmatikern" Platon und Aristoteles), daß Erkenntnis unmöglich sei, und daß man sich unter Urteilsenthaltung offenhalten müsse, sogar darüber, ob Erkenntnis möglich sei oder nicht.

[17] Agrippa, ein weiterer griechischer Skeptiker, nannte 5 Gründe (tropoi) für die Urteilsenthaltung.– Angesichts der Argumente dieser Skeptiker scheint es, daß sie die Erkenntnis einer GUW für unmöglich hielten, aber die Hauptfrage hinsichtlich einer GUW war offensichtlich noch gar nicht aufgetaucht.

Aber wir brauchen doch Gewißheit!

[18] Die Skepsis wurde verdrängt durch die monotheistischen Religionen, die – ähnlich den alten (sogenannten heidnischen) Religionen – dogmatische Sicherheit versprachen, aber um den Preis des Paradoxes ("credo quia absurdum" – Tertullian). Das Schicksal von Hypatia und der Bibliothek von Alexandria werfen ein Schlaglicht auf die historische Entwicklung. Aber diese Folge der Ereignisse sollte nicht überraschen, da menschliche Gesellschaften auf skeptischer Basis allein nicht überleben können, und sogar Individuen nur unter Schwierigkeiten. Metaphysische Sicherheit irgendwelcher Art wird erstrebt für die Lebensführung: für Ethik, Religion und Politik. Zwei sich widersprechende Denknotwendigkeiten: einerseits Sicherheit als Voraussetzung für Entwicklung und gemeinsam zu bewahrende Gesellschaftsstrukturen, andererseits Freiheit von Behinderungen durch etablierte Strukturen, sind in gewissem Grade miteinander unvereinbar. Daher mag es, anstatt die eine oder andere Seite in diesem Konflikt für im Unrecht zu erklären, nützlich sein, die Herkunft dieser Denknotwendigkeiten und des darin enthaltenen Problems direkt anzugehen. (Man könnte einwerfen, die politische Praxis [der Wechsel zwischen Konservativismus und Liberalismus] finde manchmal vor der Diskussion über die theoretische Basis statt.)

[19] Die neueren Lieferanten von Gewißheit, also etwa (unter anderen) Descartes, Hume, Kant, Hegel, die Positivisten und naiven Realisten wie deren philosophische und politische Nachgänger, hätten die Einschränkung Tertullians ihren Meinungen hinzufügen sollen – unterließen dies jedoch meist. Dies deshalb, da alle positiven existentiellen Behauptungen lediglich unbeweisbare Postulate sind, im Gegensatz zu den wissenschaftlich-funktionellen Möglichkeiten. (Dies könnte ein brauchbares Kriterium für Theologen sein, die gleichzeitig absolute Wahrheit und wissenschaftliche Rationalität (logos) für ihre Dogmen beanspruchen – s. Ratzinger. Positive Lehren können z.B. nicht so modifiziert werden, daß sie mit einem gründlichen Skeptizismus übereinstimmen.) In summa, wir brauchen strukturelle Haltepunkte, müssen aber gleichzeitig zugeben, daß diese die Entwicklung neuer Strukturen behindern können, sowie, daß dies unsere Strukturen sind, als ad-hoc, und diese Wirkung hält sogar im Falle, daß die zugrunde liegenden Bedürfnisse und die angenommene Gültigkeit der Strukturen von sehr langer Dauer sind.

Moderne Auffassungen: angeblich voraussetzungslose Wissenstheorien akzeptieren Objekte als gegeben (Empiristen, kritische Philosophie, Realisten und positivistische Epistemologie. In dieser Kurzdarstellung werde ich mich nicht mit der scholastischen Wissenstheorie befassen.)

[20] Descartes wollte das mittelalterliche scholastische Gedankengut mit seinem Zweifel an allem hinter sich lassen. Er schrieb, er habe den Archimedischen Punkt gefunden, nämlich sein eigenes Denken (die subjektive Erfahrung des "cogito, ergo sum") als eine sichere Basis für Gewißheit. Aber dies kann auch alternativ als eine Bootstrap-Operation aufgefaßt werden, wo das "Ich bin" keine wirkliche Ent-Deckung, sondern lediglich eine Behauptung (ein Postulat) ist. Im übrigen dachte er zugleich eher in traditionellen (aus der Scholastik stammenden) Bahnen, in einer Art Rückversicherung, oder als zweigleisige Annäherung, wie es scheint. Er meinte, Gott sei der Grund von Descartes (dem Subjekt) und ebensogut der Grund der physischen Objekte (denn Gott ist wohlwollend und würde uns keine Täuschung gestatten, wenn wir einen GUW-Standpunkt bezögen). Dies weist darauf hin, daß es ein Irrtum sein würde, Descartes’ Denken als rein rational und nichttheistisch zu verstehen. Späterhin allerdings wurde seine Auffassung üblicherweise als rein nontheistisch interpretiert. GUW wurde von den Empiristen wie den Positivisten verkündet, hauptsächlich in Form von Objektivität ("Wirklichkeit"), und meistens ohne Bezug zum umgreifenden Aspekt der Erfahrung.

[21] Baruch Spinoza hatte eine pantheistische Auffassung, welche (im Unterschied zu Descartes) die Einheit von Geist und Körper einschloß. Nichtsdestotrotz wollte er die Aristotelische "Substanz" und "Wesenheit" aufrechterhalten, mit dem Ergebnis eines komplizierten ontologischen (GUW) Systems.

[22] David Hume wollte einer metaphysischen Argumentation aus dem Wege gehen, aber er hielt die (GUW-)Meinung aufrecht, Objekte seien als solche gegeben. Dies ist eine metaphysische Meinung – die er nicht als solche erkannte, außer daß er sagte: wir haben keinen Zugang zu den Objekten an sich, es gibt keine "Letztbegründung im Denken" für die Vermutung, daß Objekte mit der Wahrnehmung verbunden sind. Hume’s Meinung hatte große praktische Auswirkungen, denn sie führte in die empiristisch-positivistische Sackgasse, wo sich noch heute ein Großteil der Wissenschaft wiederfindet.

[23] Immanuel Kant ging einen Schritt weiter als Hume und bemerkte, daß Objekte für sich existieren, selbst wenn wir nichts über sie wissen können: sie existieren, weil Vernunft dies so sagt. Dennoch ist seine kritische Annäherung an die Metaphysik keine überzeugende Argumentation. Wie schon Vaihinger betonte, schrieb Kant oft Fiktives, und an einer Stelle erklärte er gar das "Ding an sich" zur Erfindung. Daher kann man seine Position (diese vielleicht nicht ganz treffend) mit einer als-ob-GUW- (oder 0-D-)Auffassung als vereinbar einordnen: Im Endeffekt bleibt es sich gleich zu sagen, "GUW-Objekte existieren, weil wir das sagen", oder "weil wir sie brauchen". Wir sagen so von ihnen aus, weil sie sind, was wir brauchen, um "darin" zu denken, und auf jeden Fall sind die Strukturen unsere eigenen.

[24] Alfred N Whitehead wollte ein ebenso positives metaphysisches (GUW) System innerhalb der empiristischen Tradition erstellen. Er schuf ein kompliziertes Schema für "Objektivation", "Empfindung" und "Philosophie des Organismus". Die Russell-Whiteheadschen "Prinicipia Mathematica" versuchen die Mathematik von der Logik abzuleiten, und die Wahrheit von einer formal-logischen Behandlung abhängig zu machen. Gödel zeigte später – Korrektur erbeten bei Fehlerhaftigkeit – daß Wahrheit nicht in einem System selbst enthalten sein kann, sondern immer nur von außerhalb eingeführt werden kann (dies ist evident, wenn man überlegt, daß Wahrheit das Ergebnis von Glauben an Strukturen ist).

[25] Wilhelm Dilthey wollte die Basis der Erkenntnis durch Ausdehnung von Kants Erkennen der Objekte auf die Erkenntnis des Lebens verstärken, und dies auf einer ausdrücklich empirischen und nichtmetaphysischen Grundlage. Er schrieb, Leben sei das wahrhafte, und sogar nur das einzige Thema der Philosophie. (Soweit ich sehen kann, bedeutet "Leben" dabei "subjektive Erfahrung".) Jedenfalls hatte er keinen Erfolg in seiner Bemühung um eine einheitliche Wissenstheorie, und er scheint sich mit einer Defacto-Akzeptanz von verschiedenen Weltauffassungen abgefunden zu haben, einschließlich einer GUW-Spielart von Objektivität.

[26] Ludwig Wittgensteins frühes Werk war eindeutig metaphysisch, obwohl er ausschloß, daß über die Wirklichkeit hinter Worten und Bildern (d.i. GUW) gesprochen werden könnte. In seinem späteren Werk konstruierte er – im Gegensatz dazu – Sprach- "Spiele" und setzte die Gemeinbedeutung als das Zentrum seiner Wissenstheorie an, in einem offensichtlichen Versuch, einer GUW zu entgehen, welche er jedenfalls im Hintergrund als uneinsehbar eingeschätzt zu haben scheint.

Die Beharrlichkeit von GUW-Denken ist in der gegenwärtigen Wissenschaft illustriert durch David Weinbergs (2000) Verteidigung gegen sozialen Konstruktivismus in der Physik (wie von Hacking diskutiert). Er insistiert, Theorien seien als real und wahr "entdeckt", während man in 0-D sagen würde, sie seien konstruiert und (soweit sie erfolgreich sind) als lebensfähig befunden. Er gebraucht zwar nicht den Begriff "absolute wissenschaftliche Wahrheit", aber GUW-Wahrheit ist ersichtlich gemeint, und eine solche ist nicht durch uns erzeugt. Es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen "sozialem Konstruktivismus" und "Wahrheitsfindung mit individueller Rückkoppelung" (etwa in der Natur-Erfahrung), der in dieser Diskussion nicht immer richtig beschrieben wird (s. [39] unten).

Phänomenologie und Existentialismus starten partiell neu durch.

[27] G.W.F. Hegel ging aus von der Phänomenologie der Erfahrung, welche anfangs GUW vermeidet. Aber er wollte nicht auf den Skeptizismus begrenzt bleiben und erstrebte eine "positive Philosophie" (das Ziel ist verständlich, aber unmöglich von der Basis einer Phänomenologie aus). Deshalb bestand er auf einem "objektiven Geist" (der sich in Staat und Wirtschaft manifestiere), wie auch ebenso auf dem "Sein" als einer leeren Kategorie, was die Ontologie (GUW) zurückbrachte. Er behauptete weiterhin die Möglichkeit des Zugriffs mittels der individuellen Erfahrung (Geist) auf Gottes absolute Erkenntnis ("absoluter Geist", d.h. eine positive Version des Umgreifenden), was weit über Kants Behauptungen hinausgeht. Mir scheint, diese Auffassung gab viel vom kritischen und skeptischen Gehalt von Hegels Vorläufern verloren. (Dadurch wurde auch die Entwicklung von wissenschaftlich-politischen Ersatz-Metaphysiken [Ideologien] hervorgerufen.)

[28] Soeren Kierkegaard wies (teilweise in Gegnerschaft zu Hegel) darauf hin, daß Wahrheit uns Menschen allein von Gott herkommen könne in Form eines Menschen. Gleich Tertullian ging er von einem unmöglichen Paradox aus, aber: "im Stoßen auf dieses Paradox wird sich die Vernunft des objektiven Charakters dessen bewußt, worauf sie stößt" (MacIntyre). Trotz dieses Paradoxes ist es ganz offensichtlich, daß er ohne Frage eine GUW annahm. Diese Annahme einer positiven oder objektiven Erkenntnis (GUW) führt auch hier wieder zur Erzeugung einer komplizierten Position.

[29] Edmund Husserl war ein gewissenhafter Mathematiker, der aus der Philosophie eine Wissenschaft machen wollte (vielleicht dem gleich, wie man in gegenwärtigen Tagen ein "wissenschaftliches Studium des Bewußtseins" anstrebt). Er beschränkte sich anfangs auf die Phänomenologie, um falsche Annahmen zu umgehen, also etwa einer Existenz von Objekten und ähnlichem. Aber um eine Basis für die Wirklichkeit zu finden, schlug er zuletzt eine "transzendentale Phänomenologie" vor, in welcher er ein "transzendentales Ich" als Grundlage der Realität postulierte, wo denn alle Natur aus Objekten für dieses Ego besteht. Wiederum ein schlagendes Beispiel für den Rückfall in GUW – der Hauptgrund mag gewesen sein, daß die Frage der Geistunabhängigkeit als solcher nicht in Sicht war.

[30] Karl Jaspers betonte, daß es keine Möglichkeit für eine ontologische Wahrheit und Realität geben könne, die für jedermann gültig sei. Trotzdem sei "Transzendenz" notwendig: Der Glaube benötige transzendente Strukturen, um in der Welt handeln zu können. Weiterhin konstituiere erst der Glaube an das "Ich bin" das eigene Selbst. Es scheint daher, daß er GUW als praktisches Werkzeug akzeptiert hat, und das Subjekt als sich gründend auf den Glauben an (metaphysisch) geschaffene Strukturen.

[31] Martin Heidegger andererseits wollte ähnlich wie sein Lehrer Husserl, und obwohl seiner Meinung nach eine solche Metaphysik ihre Möglichkeiten erschöpft hatte, eine "Fundamentalontologie" anstreben – und dies, indem er wiederum von der Phänomenologie ausging, was als Selbstwiderspruch erscheint, weil Phänomenologie mit dem Anspruch startet, von der Metaphysik keinen Gebrauch zu machen.

[32] Maurice Merleau-Ponty zeigte den Widerspruch zwischen einer nie vollständigen (weil unvollendbaren) Erkenntnis der Dinge und der alltäglichen "Vermutung", daß sie bereits vollständig sei; von Interesse in dieser Beziehung ist, daß er "Zeit" als außerhalb des Geistes existierend ansah als das Seiende strukturierend ("Zeit als das Maß des Seienden"). So weit ich feststellen kann, hat er keinen Zweifel an einer GUW. (Man könnte weiter ausführen, daß die relativistischen begrifflichen Rätsel der "Zeitverlangsamung" und des "gekrümmten Raumes" verschwinden, wenn Zeit und Raum als geistige Hilfsmittel angesehen werden statt als ontologische Entitäten, und Vergangenheit und Zukunft als Extrapolationen unseres Gegenwartsbewußtseins – mit Hilfe der geistigen Strukturen – statt als stabile Gegebenheiten.

Postrealistische Epistemologie: Weitere Versuche zurück zum Ursprung

[33] Postmoderne Philosophen insbesondere deuten einmal mehr an, was von Anfang an bekannt war, aber vernachlässigt wurde: die Schwierigkeit der Behandlung von metaphysischen (GUW) "Bezügen" (Objekten und Subjekten). Im allgemeinen jedenfalls wurden sie den Glauben an GUW nicht los.

[34] Der Begriff "postmodern", scheint es, wird sehr häufig in einem vor allem linguistischen, literarischen oder soziologischen Sinn gebraucht, gemeinhin beinhaltend "soziale" oder "linguistische" Ursprünge der "Wirklichkeit", was ich als inadäquate Begründung ansehe, weil dies dazu führen würde, die Situation auf den Kopf zu stellen und die grundlegenden Ausgangsfragen nicht berühren würde. Daher gebrauche ich anstatt dessen "postrealistisch" (im Gegensatz zum behaupteten Realismus der "modernen" Empiristen und Positivisten, zusammen mit ihrer manchmal verleugneten traditionellen Metaphysik).

[35] Michel Foucault schrieb, daß der Mensch "erst am Ende des 18. Jh. erfunden" worden sei, und daß er jetzt schon wieder dabei sei, als Subjekt von Freiheit und Existenz zu verschwinden. Vorher sei der Mensch als Subjekt vom Gottesbild her geformt gewesen. – Dies ist ein interessanter Punkt: In der alten Sichtweise konnte die Seele des Menschen sowohl als subjektiv wie objektiv betrachtet werden, und als ein Ausfluß Gottes, was nicht mehr auf die gleiche Weise möglich ist, wenn man von einem subjektiven Bewußtsein als Zentrum ausgeht und den umgreifenden Teil der Erfahrung vernachlässigt. Man könnte natürlich argumentieren, diese Entwicklung habe schon viel früher begonnen, und setze sich nun weiter fort. Die neuen Versuche, die Subjektivität durch Gehirn- oder Verhaltensereignisse zu ergänzen – oder weiter zu ersetzen –, mögen teilweise den Wunsch nach einem einfacheren Stand der Angelegenheit ausdrücken.

[36] Jean-Francois Lyotard scheint den Glauben an vorgegebene Objekte ihrem Wert entsprechend zu akzeptieren. Für ihn beschränkt sich zuletzt der Verlust des Bezuges auf soziale Werte.

[37] Richard Rorty hält daran fest, daß die Welt "außerhalb von hier" sei (d.h. GUW), trotz seiner Meinung, daß Wahrheit (und Meinungen über die Wirklichkeit) vorwiegend determiniert seien von sozialen und sprachlichen Faktoren – was m.E. übersieht, daß jene nicht der Ursprung sind für ihre Wahrheit und Wirklichkeit, sondern daß es sich dabei um sekundäre Entwicklungen handelt. Soziale und sprachliche Faktoren tragen zur Standardisierung von Meinungen bei, aber sie können den Beweis der Validität und Gangbarkeit eines Konzepts nicht ersetzen, der ebenso in nichtsprachlichen und nichtsozialen Umständen begegnet.

[38] Jacques Derrida betont die Notwendigkeit, die Aussagekraft von Theorien an ihrer Ausgangsbasis zu prüfen. Er sagte jedoch, den Begriff eines Bezuges (GUW) aufrecht erhalten zu wollen. Dieser Wunsch, das Uneinsehbare einsichtig zu machen, führte hier einmal mehr zu einer undurchsichtigen Argumentation, bei Derrida ebenso wie bei jenen, die solche Ideen diskutierten.

Konstruktivismus: Wir schaffen Strukturen einer Geistwelt

[39] Ich bin Ernst von Glasersfeld zu Dank verpflichtet für die Einführung in diese Denkrichtung. Die Spurensucher dieser Gruppe haben vermutlich die meisten vereinten Anstrengungen unternommen, mit dem Problem von GUW umzugehen, obwohl ihr Aufwand bis jetzt einigermaßen vernachlässigt wurde. Auch bleiben einige theoretische Schwierigkeiten. Einerseits hat man sich zu versichern, den Konstruktivismus nicht mit einem "sozialen" Konstruktivismus gleichzusetzen, die Idee einer alles umfassenden Naturwissenschaft sei von sozialen Kräften vorbestimmt (s. Weinberg, 2000). Dies würde dazu führen, einige eher fundamentale Gesichtspunkte zu vernachlässigen, wie etwa die direkte Rückkoppelung in der Natur-Erfahrung, sowie die Konstruktion der Objekte, wie sie von Piaget beschrieben wurde. Zweitens hat der Konstruktivismus eine evidente Tendenz zur Unvollständigkeit, und so könnte er aus diesem Grund dasselbe Schicksal erleiden wie frühere (unvollständige) Ansichten, die oben diskutiert wurden: einen Rückfall in GUW-Glauben des einen oder anderen Typs. Ein Trend in dieser Richtung ist bereits sichtbar in einigen Schriften und in den Email-Diskussionen.

[40] Giambattista Vico schlug (1710) die "antimoderne" These vor, ‘scire est facere, verum est factum’ – Wissen ist Machen, wahr ist das Gemachte; dies in der Meinung, daß wir sicher nur das wissen können, was wir für uns selbst erstellt haben, etwa Mathematik, aber nicht Natur (dies im Gegensatz zu Descartes’ Subjekt-Gott-Objekt-Gewißheit und den Ansichten seiner realistischen "modernen" Nachfolger). Und diese absolute Erkenntnis der Natur ist nur Gottes, was meiner Vermutung nach ein theistisches Äquivalent ist zu Platons Meinung, daß uns das wirklich Reale entgeht. Diese Unterscheidung geht indirekt mit der Frage nach GUW um, seit Vico die Möglichkeit von GUW-Erkenntnis leugnet. Im Rückblick könnte man sagen, daß Vico eine Möglichkeit zeigte, die "moderne" Sackgasse der Wissenstheorie zu umgehen, und dies genau im Wege eines GUW-Glaubens. Das letztere ist jetzt weit verbreitet in der wissenschaftlichen Tradition einer zweifelsfreien exklusiven Objektivität, wie sie im Empirismus und Positivismus behauptet wird (und was der Grund sein mag, warum Vicos Ansicht vernachlässigt wurde). Man könnte vielleicht seinen Vorschlag erweitern, indem man sagt, wir hätten ein Wissen all unserer Konzepte, weil wir diese erstellen, anstelle von Wissen um das-in-sich-selbst, auf das sie hinweisen. Die Vorstellungen (von Objekten, Farben, Zeit, Zahlen, Gott) übersteigen die Erfahrung, aber Erfahrung umgreift ebenso die Vorstellungen (s. [53] ff. unten). Worte und Vorstellungen sind weder mit dem identisch, was wir erfahren, noch mit fiktiven (metaphysischen) "Bezügen".

[41] Jeremy Bentham entwickelte eine Theorie von Fiktionen (1814), in der er voraussetzte, daß es "reale" Entitäten (Objekte und Personen) gebe sowie "fiktive Entitäten" ebenso wie "Qualitäten", die weniger real seien und in ihrer Beziehung zu den realen Entitäten verstanden werden sollten. Daher neigte er dazu, gültige Objekte zur Begründung der Realität anzunehmen, ähnlich Hume, aber mit einigen Modifikationen.

[42] Hans Vaihinger entwickelte in ähnlicher Weise eine Theorie von Fiktionen (1911), offensichtlich ohne direkte Kenntnis Benthams (mit Ausnahme seiner politischen Aspekte, wie sie bei J. S. Mill beschrieben sind). Er wollte ebenso die verschiedenen Grade von Realität definieren. Er berichtete, Kant hätte manchmal das "Ding an sich" als Erfindung bezeichnet. Jedenfalls kannte er offensichtlich Vicos Werk nicht, und – vielleicht aus diesem Grund – betrieb er einen großen Aufwand dazu, Erdichtungen von Hypothesen zu unterscheiden (Hypothesen, vermutete er, dienten dazu, "die Wahrheit zu etablieren"). Daher ist seine Theorie in meinen Augen unvollständig, und trotz seiner Meinung zu den Fiktionen erhält er den Glauben an GUW aufrecht wie Kant

[43] Jakob von Uexkuell arbeitete an Kants Idee, daß Vorstellungen wie Raum und Zeit Konsequenzen unserer menschlichen (oder tierischen) Aktivität seien (1928). Er leugnete die Existenz von absoluter Zeit und Raum, aber trotzdem wollte er an Kants Idee der Welt-in-sich-selbst festhalten.

[44] Jean Piaget’s Werk ist von großer Bedeutung für die konstruktivistische Ansicht, weil er zeigte, daß Kinder ihre Welt konstruieren, und zwar insbesondere einschließlich von Objekten – was gewesen war und auch jetzt noch meistens das Zentrum der "modernen" Kriterien für Wirklichkeit ist. So weit ich weiß, war dies die erste Demonstration der Konstruktion von Objekten (was die Dekonstruktion von prästabilierten GUW-Objekten zur Folge hat). Piagets eigene "genetische" Wissenstheorie (1970) war weitgehend konstruktivistisch, aber er zeigt einige Rückfälle in den GUW-Glauben, vermutlich auf Grund von Gewohnheit.

[45] Heinz von Foerster wollte offensichtlich wegkommen vom Festhalten an einer "einzig-ausschließlichen" (absolut gültigen) GUW, in Richtung auf eine Art von ad-hoc-Realität, welche ’das Gehirn’ etabliert. Dies ist eine gültige Beobachtung, aber die subjektive Erfahrung scheint trotzdem zu verschwinden, weil seine Argumentation (leider, meiner Meinung nach) hauptsächlich in objektiven (GUW-) Begriffen arbeitet, wie aus der Kybernetik und von "neuronalen Computationen" her. Dieser zweite Effekt scheint sein Ersatz für subjektive Erfahrung zu werden (wie es dies etwa auch für Crick und die Churchlands ist, trotzdem ist er sich eher der konzeptionellen Fragen bewußt). Es scheint, er akzeptiert das Cartesische Cogito ergo sum in toto (Wie p.222). HvF sagte (1996), daß "Reduktionismus nichts mit seinem Denken zu tun habe! (was jedoch seine Sicht der subjektiven Erfahrung nicht erklärt und deren Rolle in der Erkenntnis). Und daß Erkenntnis ein "unglaubliches Wunder" sei (Erfahrung und Erkenntnis als ein Mysterium); daran ist nichts falsch, aber zur Verteidigung des Konstruktivismus müßte mehr gesagt werden. Im Umgang mit der Subjektivität in seinen physiologischen Hypothesen hätte er m.E. zeigen müssen, wie die Vorstellung von "neuronalen Computationen" zusammengeht ineins mit fortgesetzter Erfahrung, weil man ohne dies denken könnte, er versuche Erfahrung auszurechnen.

[46] Ernst von Glasersfeld schlägt ganz ähnlich einen Konstruktivismus vor (für Details s. TA17 und Kommentare). M.E. ist seine konstruktivistische Auffassung nicht vollständig, weil er die traditionelle Metaphysik aufrechterhalten will. Gleich Vico will er sie zwar nicht in der Erkenntnis verwenden, aber im Hintergrund seiner Theorie erhält er sie aufrecht, ohne gleichzeitig einen sichtbaren Nutzen oder eine Begründung aufzuzeigen (Vico wollte eine traditionelle religiöse Begründung beibehalten). Dieser Punkt sollte weiter ausgearbeitet werden, und insbesondere sollte seine Metaphysik funktionalisiert werden.

[47] Humberto Maturana (1988) schlägt eine Bewegung vor, welche er bezeichnet als Objektivität-ohne-Parenthese hin zur Objektivität-mit-Parenthese, was ungefähr damit zu korrespondieren scheint, was ich GUW bzw. als-ob-GUW nannte (oder 0-D). Aber er sagt, diese Bewegung könne nur aus emotionalen und nicht aus rationalen Gründen durchgeführt werden. Das übersieht, daß es zuletzt in einigen Bereichen in der Tat rationale Gründe dafür gibt, so wie GUW nichtfunktional ist unter gewissen Umständen. Ich sehe GUW-Glauben als eine nützliche Abkürzung für 0-D in manchen, wenn auch nicht in allen Bereichen des Denkens, aber nicht als einen äquivalenten Gesichtspunkt. Eine andere Schwierigkeit an Maturanas Auffassung ist, daß er das Subjekt (er nennt es "Beobachter") auf die Sprache reduzieren will, und die Sprache weiter auf Gehirnaktivität – was m.E. den Gewinn wieder annulliert, den er aus der 0D-Annahme erzielte. Eine solche reduktionistische Meinung wirft ihn zurück in GUW (d.h., Objektivität-ohne-Parenthese), und das Subjekt verschwindet einmal mehr, hier zugunsten einer objektiven Biologie.

Diskussion: Zweifel oder Gewißheit

[48] Diese sehr unvollständige Übersicht zeigt, daß die Fragen von Subjekt, Objekt, und dem Umgreifenden in wissenstheoretischen Ansichten gefunden werden können, wenn genug Information zur Verfügung steht. Es ist auch klar, daß viele der besprochenen Denker sie als wichtig, und gleichzeitig als schwierig empfunden haben.

Seit Sokrates und Platon war es bekannt und im Prinzip weitgehend akzeptiert, daß Dinge (und die Welt im allgemeinen) per se unserem Wissen nicht zugänglich sind. Dies Beobachtung, die zunächst überraschend ist, wurde von den Skeptikern der Antike betont und von verschiedenen Schulen des Denkens wiederholt und bestätigt. Aber der Skeptizismus was für praktische Bedürfnisse nicht ausreichend, und in Europa wurde er durch eine dominante theistische Sicherheit ersetzt.

[49] Seit Descartes wurde Zweifel über geistunabhängige Wirklichkeit wieder aktiver, aber er meinte einen archimedischen Punkt gefunden zu haben, um das Sicherheits-Problem auf einer nicht-theistischen Basis zu lösen. Obwohl Descartes selbst einen theistischen Rückhalt benutzte, löste er die Entwicklung des "modernen" (realistischen) Denkens aus, in dem "Objekte" als sicher angenommen wurden, während das Subjekt verschwand, und der umgreifende Hintergrund oft ebenfalls.

Es wurde als gefährlich betrachtet, äußere Sicherheitsquellen aufzugeben (obwohl in Asien manche Formen des Hinduismus und Buddhismus schon seit langer Zeit nicht-theistische Sicherheitsmethoden angeboten hatten). GUW wurde so als ein Ersatz, als eine nicht-theistische externe Quelle von Sicherheit akzeptiert, mit Konsequenzen, die noch heute begriffliche Schwierigkeiten verursachen. Vicos andere Ansicht, daß wir nur die Denk-Werkzeuge kennen die wir selbst machen, und daß nur Gott die Natur selbst kennt, hatte wenig Einwirkung auf die weitere Entwicklung von Grund-Konzepten (in dieser Diskussion benutze ich seine Einsicht als Startpunkt.)

[50] Manche, wie Kant oder Heidegger, wollten Metaphysik in einer modifizierten (kritischen oder skeptischen) Form erhalten, aber andere entschieden sich wiederholt dafür, daß Metaphysik entweder abgeschafft oder vernachlässigt werden sollte. Diese antimetaphysische Wendung war aber erstens insofern unvollständig, weil Objekte ("res extensa") und ähnliche Entitäten von der Analyse ausgeschlossen (entweder ausdrücklich oder implizit) und als vorstrukturiert aufgefaßt wurden (so z.B. Hume). Dies bedeutet Glaube an GUW, ohne es auszusprechen, das heißt, hier lag im Effekt eine Selbsttäuschung zugrunde. Und zweitens wurden die eigene GUW-Ablehnung oft vergessen, weil metaphysische Annahmen von verschiedener Art – am häufigsten in Form von "gesundem Menschenverstand" oder naivem Realismus – für Struktur und Gewißheit erwünscht sind: nicht nur in der Religion sondern auch in der Wissenschaft und im alltäglichen Leben.

Die Komödie der Irrungen oder Begriffsdynamik

[51] Versuche, die Natur "an sich" einsehbar zu machen, werden immer in begrifflichen Schwierigkeiten enden. Pyrrho und in neuerer Zeit Wittgenstein waren daher der Meinung, daß man über die Realität hinter den Wörtern schweigen müßte. Andere waren da weniger vorsichtig und behaupteten einen Zugang zum Unzugänglichen, oft mit undurchsichtiger Argumentation. Auch führten manche Versuche zur Abschaffung der Metaphysik zu deren kraftvoller Wiederauferstehung, z.B. bei Husserl und Maturana. Beide Schwierigkeiten stammen aus dem funktionalen Aspekt der Begriffe, Bilder und anderer geistiger Werkzeuge.

[52] Zuletzt: wir wissen einerseits, daß wir die "Objekte" nicht erreichen können, geben andererseits vor, es dennoch zu können, wir benehmen uns "als ob". (Als eine Folge behaupten einige Vertreter des Reduktionismus, "wir wissen, daß unsere Meinung richtig ist", selbst wenn sie zu ihrer eigenen Befriedigung gezeigt hatten, daß "wir" nicht existieren. Sie sollten etwa sagen: "unsere Gehirne wissen, daß ihre Meinungen richtig sind", und dann wäre zu erklären, wie Gehirne Meinungen haben können). Von der Geschichte der Theoriebildung zu GUW, zum Subjekt und dem Umgreifenden könnte man den Eindruck eine Komödie der Irrungen gewinnen, eines zweispurigen Denkens, oder der Flops der Vernunft. Aber solch eine Interpretation würde einen bedeutsamen Aspekt vergessen: Diese Folge der Ereignisse ist ein direktes Ergebnis der funktionalen Eigenschaften von geistigen Werkzeugen.

Begriffe oder Erfahrung:

1. Begriffe transzendieren Erfahrung und produzieren Fiktionen (nichtexistente Entitäten)

[53] Begriffe und Wortbedeutungen, ebenso wir ihre Vorläufer, solche wie Gestaltvorstellungen (und ebenso objektive biologische Rezeptor-Muster) sind mehrfach verwendbare Werkzeuge. Sie haben Eigenschaften, die beide die Dauer und Reichweite der weitergehenden (momentanen, und einschl. wiederholter und kollektiver) Erfahrung übersteigen ("transzendieren"), die sie strukturieren, unterteilen und abgrenzen. So enthält etwa ein Begriff wie "Welle" das Merkmal von sich bewegendem Wasser oder von einer Myriade von anderen sich bewegenden Medien, oder "Ich" beschreibt ein mehr oder weniger durchgehaltenes Etwas innerhalb der subjektiven Erfahrung, von einer (oder bei Empathie, auch von einer anderen) Person. (In gewissem Grade kann man dies mit den physischen Werkzeugen vergleichen, solche wie einem Hammer, der bei verschiedenen Gelegenheiten für unterschiedliche Zwecke und Aufgaben benutzt werden kann). Auch gibt diese "Transzendenzneigung" den begrifflichen "Objekten" eine asymptotische Qualität. So behauptet etwa Merleau-Ponty, man könne einen Stein "kennen" in jedem erwünschten Grade, nie aber vollständig.

Diese Bedeutung von "Transzendenz" ist "technisch" oder "instrumentell" und dürfte sich unterscheiden von demjenigen, was üblicherweise damit bezeichnet wird. Aber eine solche funktionelle Bedeutung ist immer eine Komponente des weiteren Wortsinnes, und sollte in Betracht gezogen werden, wenn dieser Topos diskutiert wird. So ist Transzendenz ein automatischer Aspekt des Begriffsgebrauchs, nicht irgendetwas optionales, zusätzliches oder ihm unzugehöriges. Gleichzeitig sind Begriffe "Fiktionen" (facta) in dem Sinn, daß sie nicht existieren: Die Vernunft sagt uns (nach Kants Position zur Metaphysik, wie sie üblicherweise verstanden wird, s. Vaihinger), daß es da kein solches Ding als "Ding an sich" geben kann, eine eindimensionale Linie, eine "Zahl an sich", keinen absoluten Raum oder Zeit, trotz der Tatsache, daß wir stets diese Konstrukte als Werkzeuge gebrauchen und sie, wie Vico herausstellt, gut kennen. (Diese Darstellung stimmt nicht mit Kants Meinung in KdRV überein, aber wie Vaihinger und andere zeigten, hat er im Opus Postumum eine andere Meinung gehabt.)

2. Erfahrung umgreift Begriffe

[54] Zweitens werden die Struktur-Werkzeuge für Selbst und Natur ad-hoc gemacht innerhalb der gegebenen, aber noch-nicht strukturierten Erfahrung, im Verlauf ihres Geschehens. (Gestalten und Begriffe entwickeln sich meist innerhalb der individuellen und kollektiven rezenten Erfahrung und Handlung, Rezeptor-Konfigurationen in längerer biologischer Erfahrung und allgemeiner Funktion.) In diesem Sinne "umgreift" die Erfahrung diese Strukturen, die innerhalb von ihr, in ihrem Verlauf, und wegen ihr entstehen (d.h. um mit ihr umzugehen, sie zu erweitern, usw.); z.B. die Wasser-Erfahrung, oder Selbst-Erfahrung, wie oben besprochen. Die Erfahrung ist weiter als die Begriffe, die entwickelt werden, um mit ihr umzugehen, und deshalb kann man nie ganz die angezielte Erfahrung in Form von Begriffen wissen, nicht einmal mit Hilfe von sehr spezifischen Begriffen. (Eine Schwierigkeit für das Verständnis kann hier sein, daß wir unsere Erfahrung fast nur in schon strukturierter Form kennen – von Strukturen abzusehen, wie z.B. in der Nirwana-Erfahrung, ist offenbar nicht leicht – aber das ändert die Start-Situation nicht. Auch können früher errichtete Strukturen die Entwicklung von neuen behindern, s. Derrida.)

Diese Bedeutung von "umgreifend" ist "technisch" oder "instrumental", und nicht unbedingt die gleiche wie gewöhnlich. Aber die technische Bedeutung ist immer eine Komponente des weiteren Sinnes dieses Wortes, und sollte in Betracht gezogen werden, wenn das Thema diskutiert wird. So ist das "Umgreifende" ein impliziter Aspekt von Erfahrung, nicht etwas Externes, zur Wahl stehendes, oder Zusätzliches.

[55] Transzendenz und Umgreifen sind Basiseigenschaften der Begriffsfunktion und von dessen Gebrauch (und des Umgangs mit Erfahrung mit Hilfe von weiteren Strukturen), die nicht geändert werden können. Aus diesem Grund ist es unnütz, Metaphysik abschaffen zu wollen, oder sie zu vermeiden, während man sie aufrechterhält; ebenso unnütz ist die Vermeidung oder Vernachlässigung des umgreifenden Aspekts der Erfahrung. Dies führt zu praktischen Fragen: (a) Wie kann man Konzepte verwenden einschließlich ihrer metaphysischen Anteile, ohne sie (fälscherlicherweise) absolut zu setzen? Und (b), wie kann man am besten das Umgreifende auffassen? Zum Fortgang auf diesem Weg wird nicht gefordert, daß diese technischen (oder formalen) Aspekte der Begriffe und von Erfahrung wichtiger sind als andere, etwa wie ethische oder existentielle, aber sie sollten in der Diskussion beachtet werden.

3. Der weiteste Aspekt des Umgreifens

[56] Gemeinsame traditionelle Vorstellungen zum Umgang mit dem umfassendsten Umgreifenden (Jaspers) sind eine Unterwerfung unter angenommene mächtige außerweltliche (GUW-)Strukturen (etwa als Gott oder die Natur und ihre Gesetze, eine religiöse oder politische Doktrin, ein König oder irgendeine andere Person, der zu diesem Zweck unbegrenzte Macht, Wissen oder Weisheit zugeschrieben wird).– Zu erklären, Religion oder ähnliche Glaubenssysteme seien Aberglaube, oder Opium für das Volk, ist zwar in gewissem Sinne korrekt, macht aber das Umfassende nicht verschwinden, und auch nicht den Bedarf von Strukturen zum Umgang damit. Die Idee einer absoluten Wahrheit ist eine Krücke, aber in gewisser Hinsicht eine Sache von Tradition oder eigener Wahl, ob religiöse, szientistische, politische oder andere Doktrinen als Krücke benutzt werden, oder ob man versucht, ohne die Annahme eines Absolutum auszukommen.

[57] Der umfassendste Aspekt der umgreifenden Erfahrung ist gewöhnlich verbunden mit der Zuhilfenahme theistischen Glaubens, von Riten und "Berichten". Aber die Quelle des Umgreifens kann nicht allein in Form von außerweltlichen, theistisch-dogmatischen Strukturen gesehen werden (was nicht leicht veränderbar ist in eine als-ob-Erfahrung, weil ihre Essenz eine positive und absolute GUW-Gottheit ist). Es kann ebenso hergeleitet werden von einer mystischen Ich-Du-Beziehung (welche leichter in ein als-ob umwandelbar ist), oder von einer Nirwana-ähnlichen Erfahrung mit der Betonung auf dem "Innerlichen" (wo eine als-ob-Umwandlung überflüssig sein kann, weil dies mehr oder weniger mit den Elementen eines 0D-Konzepts korrespondiert). Die beiden letzteren Auffassungen passen vielleicht eher als die ersten zur ökumenischen Richtung, insbesondere wenn letztere die Absicht zur Missionierung haben, gestützt auf ein partikuläres religiöses Dogma. Die gemeinsame Absicht ist nicht eine partikuläre bevorzugte Medizin, wie etwa ein Kodex von Lehren oder Übungen, welche zum unstrukturierten Denken verhelfen sollen (was aber ebenso zu Konflikten führen kann). Der gemeinsame menschliche Faktor ist der jeweilige Bedarf an Hilfe im Umgang mit dem unbehebbaren Mangel an Strukturen im am meisten umgreifenden Teil der Erfahrung.

4. Mystische Erfahrung

In Beantwortung eines Kommentars von Ernst von Glasersfeld (R12[1], und TA17) werde ich versuchen, meine Meinung zum Begriff "Mystik" zu formulieren. Wie oben erwähnt sind GUW und als-ob-GUW nicht identisch mit Metaphysik, und auch nicht mit dem Umgreifenden, und all diese sind wiederum nicht dasselbe wie Mystik. Weiterhin werden die Begriffe "mystisch" und teilweise "Mystifikation" oft in der Bedeutung von "inakzeptabel", "verrückt", oder sogar "obskur" gebraucht. Diese Begriffschwankungen können die Diskussion komplizieren. "Transzendenz" und "Umgreifen" sind zwangsläufige Aspekte des Begriffsgebrauchs, wie oben diskutiert, daher benutzt sie jeder von selbst; durch sich selbst jedoch implizieren sie nichts Mystisches, und auch keine religiöse Bedeutung.

[59] "Mystik" kann eine stark religiöse (oder dem verwandte) Haltung sein, die den Zugang zum Umgreifenden (s. Meister Eckhart, Angelus Silesius, Martin Buber, und andere) erlaubt, möglicherweise besser als eine starre positive religiöse Lehre. All diese Haltungen implizieren oder rechtfertigen weder den Vorwurf der Verrücktheit oder des Obskurantismus in Reden und Denken, was beachtet werden sollte. Dazu kommt, wie EvG betont, daß man sehr leicht dazu neigt, den als-ob-Aspekt der metaphysischen Realität zu vergessen, den einer mit hineindenkt. Dies macht weder die Vernachlässigung noch die GUW mystisch, aber es schafft ein konzeptionelles Problem, das hergeleitet werden kann vom absichtlichen Wechsel von GUW zu einer als-ob-GUW. Und mir will scheinen, eine solche Vernachlässigung ist selbstverständlich in naturalistischen (empiristischen, objektivistischen, positivistischen, naiv realistischen) Auffassungen enthalten, im Falle dort beansprucht wird, GUW-Wahrheit zu besitzen. Der Hauptvorschlag, den ich hier zu machen habe, zielt auf die Sicherstellung, genau dies nicht zu vergessen, vielmehr sich dessen ausdrücklich bewußt zu bleiben.

5. Praktische Schritte: Funktionalisieren wir die Metaphysik!

[60] Die Ergebnisse der Bemühungen einiger Wissenstheoretiker und teilweise der Konstruktivisten legen Schritte nahe, mit der unerreichbaren, aber unvermeidlichen GUW umzugehen. Bilder, Theorien, Zahlen, Dreiecke sind unsere Instrumente, die wir genau kennen, wie Vico unterstellt. Sie übersteigen die Erfahrung, sie dienen dem Umgang mit Erfahrungen, aber sie "als sie selbst" sind in der äußeren Welt nicht auffindbar. Andererseits veranlaßt Erfahrung (von Geist oder Natur) die Entstehung von geistigen Werkzeugen ineins mit dieser Erfahrung, und diese umgreift unsere Werkzeuge. Die umfassendste Erfahrung (Gott, Natur, Nirwana, mystische Erfahrung, der unstrukturierte Ursprung, das Unendliche u..a.) ist mit Begriffen schwer anzusprechen, aber es ist ihr Untergrund und Ursprung.

[61] Im Prinzip sollte es möglich sein, die erfahrungsüberschreitende Eigenschaft von Begriffen ebenso gut wie den begriffsumgreifenden Aspekt der Erfahrung zu verbinden, wenn wir die Ausgangsüberlegungen heranziehen und den Blick auf sie nicht verlieren. Das erfordert zunächst, sich bewußt zu bleiben, daß wir handeln, "als ob" natürliche Vorstellungen (Objekte u.a.) geistunabhängig seien, im gleichzeitigen Wissen, daß dies nicht der Fall ist. Dies hängt wohl zusammen mit dem falschen oder zweispurigen Realitätsglauben. Zweitens ist die Erinnerung daran notwendig, daß der umgreifende Aspekt der Erfahrung immer vorhanden ist, in einem engeren und weiteren Sinn, selbst wenn dies nicht leicht in Begriffe zu fassen ist. Dies führt nicht notwendig zur Epoché wie in der alten skeptischen Tradition, und auch nicht zum Schweigen, wie Wittgenstein vorschlägt.

Weiter ist ein solches Vorgehen dem Gebrauch von wissenschaftlichen Arbeitshypothesen ähnlich, und bewirkt eine Art "Arbeitsmetaphysik"; deren Benutzung (a) verhindert den Irrtum der Annahme von durchgehenden GUW-Objekten oder Referenzen, und Wahrheiten; gleichzeitig erkennt es (b) einen (als-ob-)GUW-Glauben als mögliches Arbeitsmittel. Wie Vico sagte, "verum est factum": wir entwickeln unsere Werkzeuge in einer Weise, die einen als-ob-Bezug und als-ob-Wahrheiten bereits einschließen, aber dennoch keine fiktiven GUW-"Bezüge"- "an sich" und Wahrheiten "an sich" (s.a. Bentham, Vaihinger). Sackgassen und Gefahren ergeben sich aus unkritischen Annahmen von Wahrheiten, Objekten und Gewißheiten, die nicht von der hypothetischen bzw. als-ob-Situation ausgehen; und (c) ist daran zu erinnern, daß Begriffe Kristallisationen sind ineins mit dem Grund der Erfahrung (s. Piaget), die deshalb die Begriffe selbst übersteigen (oder umgreifen). Sogar die umfassendsten Begriffe sind noch umgriffen von der unstrukturierten Erfahrung, ein Punkt, der meist übersehen wird von positiven Dogmen, die umfassende Geltung beanspruchen. In der Konzentration auf die Werkzeugeigenschaften wird es leichter sein, mit den Fragen nach "Realität" und "Wahrheit" umzugehen, die aus dem stützenden Glauben an als glaubwürdig akzeptierte Strukturen resultieren.

6. Geist und Gehirn

[62] Für die Geist-Gehirn-Beziehung bedeuten die Resultate, daß Begriffe wie "Hirn" und "Selbst" sich beide in der momentanen Erfahrung entwickelt haben; sie strukturieren, und somit bestimmen sie Selbst-und-Welt Aspekte. Aber die momentane subjektive Erfahrung ist der einzige zur Verfügung stehende Eingangspunkt, durch welchen das Denken gehen muß oder kann, um irgendwelche dieser Selbst-und-Welt-Strukturen zu erreichen. Die benutzten Strukturen sind für das Denken nötig, aber sie können auch gelegentlich mit der Formation von neuen Strukturen interferieren. Begriffe wie Hirn-Funktion, Information, Computation, Kybernetik, usw. entstehen innerhalb der subjektiven Erfahrung und nicht umgekehrt. Wenn man in ein Gehirn schaut, findet man keine subjektive Erfahrung, aber wenn man in seine eigene, oder jemandes anderen Erfahrung und Vorrat von Begriffen und Bildern sieht, kann man (oder auch nicht) "Gehirn" finden.

7. Das Subjekt

[63] Mit dem Ausgang des Mittelalters (wo die Seele wohldefiniert und als Ausfluß Gottes verstanden wurde) haben sich viele Denker (Hume und Kant einschließlich) mit dem "Subjekt"-Begriff unwohl gefühlt, weil es nicht als festes, unveränderliches und äußerliches Objekt gegeben ist, wie etwa ein Stein. Favorisierte Wege zum Umgang damit führen es zurück auf biologische Prozesse, auf Sprache oder soziale Einflüsse, oder in Kombination davon. Aber solche Reduktionsversuche machen sich selbst zunichte, weil sie das Subjekt verschwinden lassen. Anstatt dessen kann man "Gehirn" und "Selbst" verstehen als Struktur – entstanden ineins mit der Erfahrung –, die Gehirn als ein Objekt, das Selbst als ein fast-Objekt, das die gegenwärtige Erfahrung umfaßt und stabilisiert. Der einzige Weg, sie zusammen zu begreifen (als Eines, oder als aufeinander bezüglich) ist, von der fortgesetzten Erfahrung auszugehen.

8. Unscharfe fast-Objekte

[64] Für physikalische Teilchen meint dies, wir bilden diese gleich allen anderen natürlich-vorgestellten Seiendheiten. Wenn wir eine wellen- oder teilchenartige Seiendheit strukturell vorstellen, so ist dies ein Ergebnis unseres eindringenden Bemühens. Die Schwierigkeit stammt nicht von der Entdeckung, daß wir diese selbst strukturieren, sondern von der gewohnheitsmäßigen Annahme, daß uns diese Seiendheiten in vorgefertigter Form "gegeben" werden. Es gibt jedoch keinen Grund, eine zusätzliche (sich durchhaltende und wechsellose) Struktur hinter ihnen zu erwarten. Man denke an holographische Bilder, wo man (als "Beobachter") wesentlich auffälliger als üblich ein "Teil des Systems" ist. Neuerdings hat man einige große Mauer-Anzeigen von Fahrzeugen, wo das Erscheinungsbild sich wiederholt zwischen dem eines Kombiauto und einer Limousine verwandelt, wenn man vorbeigeht. Sollte man sich gedrängt fühlen, ein einzelnes Objekt als Grund für diese zwei Vorstellungsbilder zu postulieren? (Der Hersteller will damit auf die gemeinsame Herkunft beider verweisen.)

[65] Wir erstellen alle Objekte von und ineins mit der Erfahrung ausgehend, wie sie sich ereignet. Und dies im Prinzip ebenso auch im Falle, wenn wir von anderen vorausgegebene Vorstellungsgehalte benutzen, wenn diese von anderen in ihrer eigenen Erfahrung erstellt und dann kommunikativ übermittelt wurden. Natürlich ist es wertvoll für uns, möglichst herauszufinden, welche Aspekte des Wissens von der öffentlichen Meinung oder Vorurteilen beeinflußt sind. Aber weder Sprache noch Gesellschaft können die erste Quelle der Wirklichkeit sein (man denke etwa an Schmerz, Geschmack, Hunger, Geruch, Farbe oder visuelle Bilder). Ob und in welchem Maße wir Standards benutzen, die festgelegt sind durch die Sprache oder soziale Konditionierung, um unsere Erfahrung zu strukturieren, ist eine sekundäre, keine primäre Frage.

9. Theorien (des Bewußtseins und weiterer Teileaspekte)

[66] Auf beiden Gebieten (Geist-Gerhirn und Teilchenphysik) ersetzt die theoretische Beschreibung nicht das Experiment, sondern sie ergänzt dieses, und sie wird gebraucht, um die Gesamtsituation und die Ergebnisse zu verstehen. In Bezug auf Theorien zum Bewußtsein ist meine gegenwärtige Meinung, daß man nur unter Einbeziehung der Überlegung Erfolg haben kann, daß die fortgesetzte Erfahrung der einzig möglich Ausgangspunkt ist. Dies meint, die Annahme traditioneller GUW-Formen ist unausgesprochen im Empirismus enthalten, oder in jeder anderen statischen Theorie. Ein wissenschaftliches Studium des Bewußtseins ist ein begrifflicher Selbstwiderspruch, weil "wissenschaftlich" gemeint ist als "objektiv" und "Bewußtsein" muß die fortgesetzte subjekte Erfahrung einschließen.

[67] Eine mögliche Betrachtungsweise von Theorien ist, sie als mehr oder weniger zusammenhängende Menge von sich gegenseitig aufeinander beziehenden Vorstellungen anzusehen. In diesem Falle können die Eigenschaften einzelner Vorstellungen (und ähnlicher geistiger Werkzeuge) als tragend für Theorien erwartet werden. Wie Vico betont hat, stellen wir unsere Vorstellungen selbst her, und das ist der Grund, warum wir sie genau kennen. Dies gilt nicht nur in der Mathematik und Logik, sondern für alle Vorstellungen. Sie zielen darauf, mit der Erfahrung umzugehen, wie sie sich ereignet. Weiterhin werden diese Werkzeuge wiederholt gebraucht, und deshalb dehnen sie sich über jede partikuläre Erfahrung in der Zeit hinaus aus (transzendieren sie), und zwar dies ebenfalls im Sinne einer Bedeutungserweiterung, einschließlich über wiederholte, kumulative und kollektive Erfahrung hinaus. Wie Vico ebenfalls betonte (und einige andere seit Platon) können wir die physische Welt nicht "an sich" erkennen. Der Grund dafür ist, vermute ich, daß eine solche physische Welt "an sich" eine Fiktion ist, und ein direktes Ergebnis der Transzendenz-Eigenschaft von Vorstellungen.

[68] Und: fortgesetzte Erfahrung ist umfassender als der Teil von ihr, der mehr oder weniger adäquat erfaßt werden kann mit Hilfe der beteiligten natürlich-geistigen Strukturen. Diese Erfahrung umgreift immer Vorstellungen (einschließlich der vorgestellten Realität und der Theorien über diese).

[69] Weil sie angeboren begrenzt sind, Theorien ebenso wie Vorstellungen, können sie sich einmischen in die Untersuchung der Erfahrung, wie dies bei der Äther-Theorie der Fall war, oder bei ähnlichen Vermutungen über die Absolutheit von Zeit und Raum. Diese Vorstellungen wurden früher eingeführt mit dem Ziel, die Erfahrung auf dem Gebiet der Physik zu strukturieren und zu stabilisieren, aber vor über 100 Jahren fand man heraus, daß dies eher ein Hindernis als eine Hilfe sei. Deshalb schlug Einstein vor, diese Vorstellungen aufzugeben, und führte anstatt dessen eine neue Voraussetzung als zentrales Axiom ein: die konstante Lichtgeschwindigkeit, die überall einen Teil des physikalischen Theorie gegenwärtig umwälzt. Anstatt die Lichtgeschwindigkeit zu variieren, sind jetzt Raum und Zeit verformbare Werkzeuge, die wie benötigt verändert werden können. Auf diese Weise wurde die alte Mechanik mit der Elektrodynamik vereinigt. Bei der Entwicklung von Theorien scheint es hilfreich zu sein, von nur einer einzigen unveränderlichen Entität auszugehen.

[70] Eine generelle Implikation dessen ist, daß, wenn Vorstellungen nicht länger lebensfähig sind, man auf die Erfahrung zurückgehen muß im Versuch, eine passendere zu entwickeln: neue Bilder der "Wirklichkeit", bessere Ideen zur "Wahrheit" ("verum est factum", Vico). Erfahrung ist immer umfassender als die Werkzeuge (Vorstellungen, Bilder, Theorien etc.), die innerhalb ihrer entwickelt wurden, und das ist ihre Quelle. Allgemeinere Theorien (s. Weinberg 1999) können einige restriktive Vorstellungen verwerfen, und es daher erlauben, hilfreichere Vorstellungen zu entwickeln. In Erweiterung dieses Gedankens ist die umfangreichste Quelle die unstrukturierte Erfahrung; sie allein benötigt selbstverständlich keine Werkzeuge, und die spätere [67-70] ist in sie hineingebaut, wie benötigt (ad-hoc).

------------------------ Herbert FJ Muller e-mail: hmller@po-box.mcgill.ca

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