Deutscher Originalartikel aus der Diskussion des Karl Jaspers Forums im Internet
(http://www.mcgill.ca/douglas/fdg/kjf/)
Original-Titel: KARL JASPERS FORUM TA32 R1 EXPERIENCE AND MIR

Antwort 1 (zu TA32 C6 von Helmut Walther)

Prof. Dr. Herbert F. J. Müller (Montreal)

Erfahrung und geistunabhängige Wirklichkeit

4. Dezember 2000, versandt 19. Dezember 2000

[1] HWs Hauptpunkt in seinem Kommentar ist, daß er eine Beziehung zwischen Realität und Bewußtsein aufrecht zu erhalten wünscht, während er behauptet, daß meine Sehweise das nicht tut.

[2] Dies sagend, weist er eigentlich darauf hin, daß Realität identisch ist mit traditioneller statischer GUW-Realität, obwohl er dies nicht ausdrücklich erklärt. Dies ist nicht allein seine Sicht, sondern ebensogut diejenige von vielen andern, und sie führt zu Schwierigkeiten, insbesondere, wenn wie hier, traditioneller GUW-Glaube unausgesprochen als tragfähig eingeschlossen ist, ohne Diskussion, warum und wie man diesen anwenden könnte. Da ich offensichtlich keinen Erfolg dabei hatte, meine Meinung in vorangegangenen Diskussionen zu darzulegen, werde ich deren Hauptpunkte wiederholen, um meine Sicht klarer zu übermitteln.

[3] Meiner Meinung nach ist diese statische geistunabhängige Realität ausschließlich eine menschliche Fiktion, die dazu dient, das Denken zu strukturieren. Es ist nichts falsch an deren Gebrauch, aber man sollte sich der Tatsache der Fiktion stets bewußt sein (und dieses Bewußtsein unterscheidet es von einer statischen GUW bzw. einer alsob- oder Arbeits-GUW). Ein unkritischer Gebrauch von GUW andererseits führt in eine Sackgasse, insbesondere wenn man versucht, wie wir es hier tun, jene Fragen zu verstehen wie die Beziehung zwischen Bewußtsein und Dingen (einschließlich besonders der Beziehung der Erfahrung zur Gehirin-Funktion).

[4] Ich denke, Realität ist das Ergebnis unseres Investments von Glauben (Realitätsglauben) an Strukturen, die wir selbst schaffen. Ich leugne daher nicht eine Beziehung zwischen Bewußtsein und Realität, ganz im Gegenteil. Wie ich es sehe, besteht der Unterschied zwischen HWs und meiner Sicht darin: er meint, Realität sei geistunabhängig strukturiert, während ich sage, daß Struktur und Glaube allein vom Geist herstammen. Dies gilt nicht nur für Menschen sondern auch für Tiere und ergibt ihre "Welthaftigkeit" <3>.

[5] Nicht-verbalisierte Strukturen einschließlich der Empfindungen sind in meiner Sicht nicht von der Erfahrung ausgeschlosssen, im Gegensatz dazu, was HW sagt: "Bewußtsein beginnt dort nur auf Basis der Begriffe.") Siehe z.B. TA 32(6): "Frühe Formen schließen ein Gestalt-Formationen oder visuelle, auditive, Tasteindrücke, und weniger scharf unschriebene Formationen (die normalerweise als "Qualia" bezeichnet werden, weil sie nicht leicht quantifiziert werden können), also solche wie Eindrücke von Farbe, Geruch, Geschmack, Gleichgewicht, Schmerz. Ich denke, daß ein Teil der Schwierigkeiten in der Kommunikation von HWs Gebrauch des Begriffs Bewußtsein herstammt (1 ff.) und zwar anders als "angehende subjektive Erfahrung", welche die zentrale Bedeutung der Erfahrung betont. Das meint nicht, daß man den Begriff Bewußtsein nicht benutzen sollte, aber man muß in jedem besonderen Falle seine Bedeutung genau definieren. Bewußt kann also etwa sowohl bedeuten "nicht unbewußt", oder aber auch eines bestimmtes Dinges unter anderen "gewahr" zu sein.

[6] Die Diskussion in Bezug auf "Software" und "Hardware" (3) gehört ausschließlich zum objektiven (naturalistischen) Typ und kann deshalb nichts über die subjektive Erfahrung aussagen (d.h., was HW "Bewußtsein" nennt). Ein Aspekt, der üblicherweise verloren geht in ausschließlich objektiven Auffassungen, ist die kardinale Rolle des Umgreifenden der Erfahrung (s. TA 31 C3<17>).

[7] Es ist nicht möglich, zwischen dem Materialismus und dem Aufbau mentaler Strukturen zu vermitteln (4), weil diese Strukturen innerhalb der Erfahrung selbst aufgebaut sind. Es ist keine Frage des Entweder/Oder, oder irgendwo dazwischen, sondern man muß sehen, daß "naturalistische" objektive Strukturen immer und nur sekundär sind zur Erfahrung, von dieser hervorgebracht und in dieser verbleibend. Materialistische Auffasssungen sind Spezifizierungen von geformter Erfahrung, während die 0-D-Auffassung die Entwicklung dieser Formen aus keinerlei anderen Strukturen heraus beschreibt. Zwischen beiden zu vermitteln würde bedeuten, zwischen einem Teich und dem Boot zu vermitteln, das in jenem schwimmt.

[8] HW liegt richtig, wenn er schreibt, daß die Reduktion der Erfahrung auf objektive Daten meiner Meinung nach unmöglich ist. Aber die Behauptung, daß für mich "Bewußtsein allein erscheint als eine Folge der Begriffsdynamik" <3> ist das Gegenteil von dem, was ich sage, weil die Begriffe innerhalb der Erfahrung geformt sind, und deshalb sind sie sekundär zur Erfahrung (oder was Walther Bewußtsein nennt). S. TA 32 [9]: Erfahrung an sich ist vorausgesetzt, "gegeben" – wir erfinden sie nicht. Im Gegensatz dazu sind die Strukturen der Realität nicht gegeben. Alle vorhandenen notwendigen Strukturen, die in der Erfahrung benutzt werden, und die sie feststellen (bzw. strukturieren), sind von uns (individuell und kollektiv) innerhalb der Erfahrung erstellt oder gefunden.

Ich hoffe, diese Anmerkungen helfen unserem Kommunikationsversuch auf.

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