Helmut Walther (Nürnberg)

"Der Tod der Musik aus dem Geist der Komödie?"
oder: der Versuch einer evolutionären Ortsbestimmung der Musik am Ende der Metaphysik

Ensemble-Akademie Freiburg
Alte und neue Musik
ensemble recherche
Freiburger Barockorchester

Referat vom 31.07.2005 im "Spielraum" der Musikhochschule Freiburg
(Überarbeitung und Erweiterung anlässlich eines Vortrags
vor der Gesellschft für kritische Philosophie Nürnberg Oktober 2006)



Siehe dazu auch aktuelle Nachträge 1-4 zum Thema

Links zu den Websites der beiden Ensembles
Ensemble Recherche
Freiburger Barockorchester
Bericht der Neuen Musikzeitung über die Freiburger Ensemble-Akademie 2004


Bereits der Erstling Friedrich Nietzsches versucht die "Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik" abzuleiten, mythisch begriffen als Widerspiel zwischen Dionysos und Apollo. Gerne greifen auch moderne Komponisten und Kulturdenker auf solche Mythen zurück, wenn sie das Wesen der Musik beschreiben wollen, so etwa Wolfgang Rihm im Gespräch mit George Steiner.(1) Dagegen möchte ich den Versuch unternehmen, Musik als Teil der kulturellen Evolution des Menschen zu verstehen, um schließlich zur bekannten Problematik der E-Musik in unserer Gegenwart zu gelangen.

Bitte denken Sie daran, dass es sich im Folgenden stets um Hypothesen handelt, die ihren Zweck dann erreicht haben, wenn sie zum eigenen Weiterdenken anregen. Natürlich kann ich in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nur grobe Linien angeben.

Geplant ist quasi ein umgekehrter Abzählreim: Es sollen vorgestellt werden:

VIER Formen der Gegenwart
DREI menschliche Interpretationsvermögen
ZWEI musikalische Formen: Melodie und Rhythmus
EIN Ende der Metaphysik und der Musik? – versehen mit einem Fragezeichen

I. Vier Formen der Gegenwart

Das vorgegebene Thema der "Spielräume" ist Geschichtsverhältnis und Gegenwart der Musik, und so habe ich mich sogleich am Begriff Gegenwart festgebissen; denn so einfach die Feststellung ist: "Die Gegenwart, das ist Jetzt", so wenig wird eine solche Definition dem breiten Begriffsgehalt gerecht:

Gegenwart ist eine Form der Zeit; letztere ist physikalisch noch eigentlich unverstanden. Unsere Zeitwahrnehmung stammt aus ganz verschiedenen Bereichen: Äußerlich aus den Rhythmen der Natur (Tag/Nacht und Jahr), innerlich aus vegetativen Taktgebern (innerer Tag-Nachtrhythmus, chemisch-elektrische Gehirnwellen als Steuerung und Bindung von Sinnes-, Gedächtnis- und Bewusstseinsaktivität) sowie aus der variierenden emotional-rationalen Zeitwahrnehmung. Bereits hier stoßen wir zweimal mit dem Rhythmus auf ein Phänomen, das in der Musik eine große Rolle spielt.

Die vier Formen sind: Augenblick – Jetzt – Epoche – Allgegenwart

1. Der Augenblick, der Unerreichbare. Erst nach 1/10 Sekunde nehmen wir Töne bewusst war, mehr als 12-15 Töne pro Sekunde können wir nicht unterscheiden. Will sagen: Unser Bewusstsein hinkt der Wirklichkeit unaufhebbar hinterher, und Vorgänge, die unseren Bewusstseinstakt unterlaufen, fassen wir zusammen. Außerdem steuert unser Gehirn die zusammengehörenden, aber über die verschiedenen Sinnesorgane unterschiedlich schnellen Signale eines Vorgangs über Wahrnehmungsfenster, damit zusammenkommt, was zusammengehört; d.h., die schnelleren Signale müssen warten, bis die langsameren auch da sind. All dies Zusammensetzen der "Augenblicksfenster" ist eine uns selbst ganz unbewusste Leistung unseres Gehirns.

2. Daraus entsteht die bewusste Gegenwart des Menschen: der Zeitstrom aus Emotio und Ratio, unsere eigentliche menschliche Gegenwart, das "Hier und Jetzt". Das Zusammenstellen der Dinge mittels Sprache ergibt im Nebeneinander den Raum und im Nacheinander die Zeit, wie sie nur der Mensch kennt.(2) Dieser "Konstruktivismus" unseres Bewusstseins führt dann, wenn er etwa bei Kant reflektiert wird, zur Annahme des berühmten "Dings an sich", das wir angeblich niemals zu Gesicht bekommen können.(3)

3. Der Gegenwartsbegriff als Epoche setzt bereits die Reflexion der Geschichtlichkeit des Menschen und seiner Kulturentwicklung voraus. Diese eigentliche Frage des Spielraum-Themas nach dem Verhältnis von geschichtlichen Errungenschaften der Musik, etwa des Barock, und ihrer modernen Daseinsform in der Gegenwart kann ich hier wohl aussparen, denn dazu werden sich schon vorherige Referenten geäußert haben – und ich selbst habe einen anderen Aspekt der "Geschichtlichkeit" gewählt, nämlich die kulturelle Evolution; ein Phänomen dieser Entwicklung aber ist gerade die Musik. Erinnern möchte ich aber doch an Nietzsches Zweite Unzeitgemäße Betrachtung "Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben", in der er die Problematik des Epochen-Verhältnisses behandelt: Neben der monumentalischen und antiquarischen hebt er darin vor allem die kritische Geschichtsbetrachtung hervor; denn "im Dienste des Lebens" sei es nötig, "von Zeit zu Zeit … eine Vergangenheit zu zerbrechen und aufzulösen, um leben zu können".(4) Diese Überlegung scheint mir insbesondere für die moderne Musik seit Webern und Schönberg von Bedeutung, insofern hier ein unübersehbarer Bruch mit der musikalischen Tradition stattgefunden hat, den ich im letzten Teil im Lichte der vorherigen Überlegungen einzuordnen versuchen möchte.

4. Gegenwart als Ewigkeit

Allgegenwartsvorstellungen in Religion und Mystik, die heute auch im Westen über östliche Religionspraktiken fröhliche Urstände feiern, werden angestrebt als ein Transzendieren des rationalen Vorher, Jetzt und Nachher in einem "überrationalen" Alleszugleich, wie es in der Mystik der Gottheit zugeschrieben wird. Eine ähnliche Vorstellung muß Schopenhauer gehabt haben, als er die Musik als die metaphysische Kunst par excellence beschrieb, in der die Aushängung des Willens möglich werde.(5)

Zwar lässt sich jeder wirkliche Musikliebhaber gerne von dieser in "höhere Sphären" geleiten; aber wir sollten unsere dahinter stehende Liebe zum menschlichen Ideal und Wesen, das uns in glücklichen Fällen aus der Musik ansprechen kann und damit für unser Erleben "in eine andere Welt" versetzt, nicht halb religiös mystifizieren. Vielmehr handelt es sich um ein "Einungserleben" zwischen Komposition und Hörer, der Hörer muss der vom Komponisten hineingelegten Idealität von sich aus entgegenkommen; so kann er eine "lebendige Kommunikation" erleben, die von hoher Begeisterung begleitet sein kann.

An diesen verschiedenen Auffassungsmöglichkeiten der Gegenwart werden die Stufen oder Schichten des menschlichen Denkens selbst sichtbar, wie sie ebenso in der Geschichte der Philosophie, der Religion und eben auch der Musik gezeigt werden können als die Auswicklung der jeweiligen Vermögen Empfindung und Gefühl, Verstand und Vernunft.

II. Drei menschlichen Interpretationsvermögen

Die stammesgeschichtliche Entwicklung des Gehirns über Stammhirn, Kleinhirn und Großhirn einerseits, sowie die Ausdifferenzierung des Neokortex bei den Säugetieren andererseits bildet die Voraussetzung auch des menschlichen Bewusstseins. Stammhirn und Kleinhirn sind – grob gesagt – für Vegetativum und Instinkte zuständig, die auch noch all unserer "Höherverarbeitung" im Neokortex zugrunde liegen und notwendig in dessen Bewusstsein durchbrechen, da wir sonst weder Schmerz noch Hunger fühlen würden. Im Neokortex hingegen werden Empfindungen, Verstand und Vernunft erzeugt, aus welchen erst das hervorgeht, was wir Bewusstsein nennen.

Was uns nun im Zusammenhang mit der "Gegenwärtigkeit" von Musik besonders interessiert, ist natürlich das Bewusstsein des Menschen, in dem sich, wie gesehen, diese Gegenwärtigkeit ja abspielt und abspiegelt. Wir brauchen dazu also eine Theorie über das menschliche Bewusstsein und dessen Komponenten.

Die basalen Voraussetzungen des Bewusstseins aus Vegetativum und Instinkt interessieren uns hier nun weniger, wenn auch beide Vermögen in musikalischer Hinsicht im Hinblick auf den Rhythmus durchaus von Bedeutung sind, da unbewusst so Aktivitäten "in Phase" gezogen werden können. Dies lässt sich bei jeder Techno-Veranstaltung beobachten; wichtiger noch ist natürlich die Bedeutung des Rhythmus als eine bestimmende Grundkomponente des Komponierens, weil bestimmte Rhythmen mit bestimmten Tätigkeiten oder Ereignissen gekoppelt sind, die darüber in der Musik ausgesprochen werden können.

Es wird oft, auch von höchsten musikalischen oder philosophischen Autoritäten behauptet, die Musik sei eine ganz eigene Ausdruckswelt, beruhe allein auf der Empfindung und sei vor allem nichtsprachlicher Natur. Sie wird dann gerne mythologisiert oder gar mystifiziert wie etwa von Schopenhauer. Beides ist meiner Auffassung nach falsch. Oben habe ich schon an der Gegenwart gezeigt, dass menschliche Gegenwart immer bereits den Verstand und damit Sprachliches voraussetzt – und so soll hier nun noch genauer gezeigt werden, dass alles menschliche Bewusstsein, und so auch die Wahrnehmung von Musik, ohne Sprache gar nicht möglich ist. Dies aber auch noch aus einem weiteren Grunde: Wir sollten zwischen den Empfindungen, wie wir sie aus dem tierischen Bereich in uns vorfinden, und unseren Gefühlen unterscheiden. Schließlich befasst sich auch Musik nicht mit den Empfindungen, die durch die Verarbeitung der Sinnessignale bezogen auf den Körper ausgelöst werden, wie wir es mit den Tieren teilen, sondern mit einer ganz anderen Art von "Empfindung", die wir deshalb zur Unterscheidung auch anders benennen sollten, eben als Gefühl. Gefühle laufen zwar über dieselben cerebralen Strukturen wie Empfindung, aber sie entstehen durch die Übertragung und Konditionierung von Empfindung auf Verstandesbegriffe, und so erst sind sie der reichen menschlichen Ausdifferenzierung fähig.

1. Die Emotio: also Empfindung und (reflexives) Empfindungsbewusstsein teilen wir mit den höheren Tieren – aber Gefühle kennt nur der Mensch. Empfindung ist der reflexive Abgriff der chemischen Schüttung des limbischen Systems im Falle von äußeren und inneren Signalen: Eine Art "Emotio-Potentiometer" ist die Grundlage des Empfindungsbewusstseins als Innenwahrnehmung dieser angenehmen bzw. unangenehmen Bewertungen – Lust und Unlust sind bereits auf der tierischer Ebene Vorläufer aller Werte, weil damit individuelle Bewertungen unterschiedlich ausgeprägt werden können.

2. Die oft unterschätzte Bedeutung des Verstandes: Die Worte sind jene Fackeln, in deren Licht uns die Dinge erst erscheinen. Sie entstehen aus der Zusammenfassung der Eigenschaften zu einem "Ding", das als solches mit dem sprachlichen Begriff gekoppelt und in einem eigenen und bewussten Gehirnareal gespeichert wird. Die Zusammenstellung dieser Dinge in der Grammatik als Sprache ist eine Nachstellung der Welt und bewirkt das rationale Bewusstsein. Die menschlichen Gefühle entstehen aus der Übertragung der Empfindungsbewertung in den Verstandesbereich. Statt den Ding-Eigenschaften werden nunmehr die Dinge selbst mittels Emotio bewertet, und diese Bewertung wird nunmehr beim Begriff mitgespeichert; daher denn die unaufhebliche Nähe zwischen Emotio und Verstand. Alle menschlichen Gefühle haben einen rationalen Bestandteil, weil sie sich auf eine begriffliche und bewusste Situation beziehen. Dies kommt natürlich auch in der Musik zum Tragen, egal, ob man Beethovens Pastorale hört oder Harveys String Trio musiziert: Ohne einen rationalen Begriff davon, was die Noten letztlich als emotional geschilderte Situation darstellen sollen, wäre der Gehalt der Musik weder zu spielen noch zu hören. Gerade auch beim Musizieren braucht es eine "Vor-Stellung", einen zuvor überdachten Sinnzusammenhang der musikalischen Aussage.

Auch Musik ist also eine Sprache, diejenige des Gefühls, und sie entwickelt sich parallel zur "richtigen" rationalen Sprache. Zu jedem Gefühl gehört auch ein bestimmter Sprach- und Hörgestus in der Sprachanwendung und -auswertung, der dann in die Musik übertragen und damit auch in ihr wiedererkannt werden kann.

Dabei setzt der Verstand immer das Entgegenkommen der Erinnerung voraus, ob Sie meine Rede verstehen wollen, ein Buch lesen oder ein Musikstück hören: Nicht umsonst ist Polyhymnia, die Muse der Musik, eine Tochter des Zeus und der Mnemosyne, der personifizierten Erinnerung! Der Mythos sieht hier schärfer als mancher späte Mystiker. Da jeder aber andere Vorerinnerungen und damit eine ganz individuelle epigenetische Gehirnstruktur hat, entsteht in jedem Kopf bei diesem Entgegenkommen eine andere Welt, und jeder hört eine andere Musik. Parallel zum Entgegenkommen der engrammierten Erinnerung wird über das limbische System auch die mitgespeicherte Vorbewertung aktualisiert. Dies der Grund, warum wir immer wieder gerne die gleichen Musikstücke hören: solche "episodischen Assoziationen" bewirken eine entsprechende Dopaminausschüttung des körpereigenen limbischen Belohnungssystems.
Andererseits: Ihnen ist sicherlich bekannt, dass etwa die klassische deutsche Musik in ihrem inneren Gehalt auf der ganzen Welt verstanden wird, insbesondere gilt dies für Asien. Denken Sie etwa an Japan, wo mit Tausenden gefüllte Stadien die Ode an die Freude intonieren, oder das intensive Studium Millionen Jugendlicher in klassischer Musik mit Klavier oder Violine in Japan, Südkorea und China. Der Pianist Lang Lang ist dort zum Nationalhelden aufgestiegen, man schätzt, dass in etwa 20 Millionen Haushalten nunmehr ein Klavier steht. Und dies, obwohl die einheimische hergebrachte Musik die reflexive Höhe dieser europäischen Klassik aus sich heraus keinesfalls erreicht hat.
Nun, auch dies ist kein "Wunder", sondern verweist zurück auf jene Tatsache, dass Musik deshalb eine Art "internationale Sprache" ist, die überall verstanden wird, weil überall auf der Welt die Menschen als Angehörige einer einzigen Spezies, die genetisch nach wie vor sehr homogen ist, auf gleiche Weise fühlen. Auf der Basis genetisch gleicher Empfindungen wurden in Verbindung mit der jeweils ganz eigenen Sprache und trotz variierender äußerer Umstände in allen Erdteilen identische Grundgefühle ausgebildet, die sich etwa über die klassische Musik ansprechen lassen, obwohl in den außereuropäischen Kulturräumen diese zunächst völlig unbekannt war.

3. Zuletzt die Vernunft: Die Unterscheidung der menschlichen Ratio in die Vermögen Verstand und Vernunft geht schon auf Aristoteles zurück und wird durch die Philosophiegeschichte etwa bis zu Kant und seinen "Vernunft"-Kritiken immer wieder gebraucht, wenn auch häufig nicht trennscharf; andererseits werden beide Begriffe oft auch als ganz synonym verwendet. Die Notwendigkeit einer Trennung und einer Erklärung und Begründung auf Basis der kulturellen Evolution wird vielleicht am einfachsten einsichtig am ontogenetischen Unterschied zwischen Kind und Erwachsenem: Niemand wird einem normalen Kind den Verstand absprechen, aber jeder wird es als unvernünftig bezeichnen – und daher auch noch nicht verantwortlich für seine Handlungen. Letzteres deshalb, als in unsere Tradition im Lauf von 2500 Jahren vor allem vernünftige Handlungsweisen und Werte eingegangen sind, die sich dem unvernünftigen, aber durchaus verständigen Kind noch nicht erschließen können. Wie in der Ontogenese, so auch in der Phylogenese.

Was also ist Vernunft, die sich seit der von Jaspers deshalb so genannten "Achsenzeit" (etwa zwischen 1000-500 vC) im Osten wie im Westen – allerdings unterschiedlich – auswickelt? Sie ist die Durchsicht auf das "Wesenswas" (Aristoteles) der Dinge des Verstandes, modern Abstraktion und Reflexion genannt. Die Abstraktion meint vor allem die Isolierung des Wesentlichen eines Dinges unter Abtrennung des Zufälligen, wohingegen die Reflexion den eigenständigen Umgang mit diesen Abstraktionen anspricht, aus dem sich das Vernunftvermögen z.B. als Logik herausbildet.

Erst mittels der Vernunft ist der Mensch in der Lage, vom Wesen der Dinge und von seinem eigenen Wesen zu sprechen, erst aus der Erkenntnis des gleichen Wesens aller Menschen konnten die heutigen Menschenrechte, aber auch die sogenannten Hochreligionen entstehen, die von daher Anspruch auf Gültigkeit für alle Menschen erheben. Denn es ist die Idealisierung der Vernunft, die zunächst notwendig ein höchstes und allmächtiges "Wesen" hypostasiert und dieses "Wesen" auf ihre eigene "Höhe" hebt.
Erst durch die Vernunft kann in der Musik das ideale Wesen des Menschen zum Klingen gebracht bzw. etwa in der Romantik sein Fühlen musikalisch reflektiert und heute in der Filmmusik im doppelten Wortsinne instrumentalisiert werden.

III. Zwei Formbewegungen: Rhythmus und Melodie

Diese Wesensmitteilung aber ist auch die Aufgabe jener neuen Musik, die die Griechen parallel zum Aufkommen der Philosophie entwickelten. Die Vorformen der westlichen Musik, also erstens jene der Naturvölker können wir noch heute in Afrika und Südamerika, und zweitens jene der Verstandeskulturen in Asien und Arabien, aber auch etwa den in den Schilderungen des Homer sehen: Die alte Musik des Verstandes ist immer rituell, zunächst magisch und rituell, später höfisch und rituell. Gleichzeitig hat sie stets eine soziale Komponente, indem sie Stamm oder Volk in einem Bewusstsein zusammenbindet.

Demgegenüber stellt die neue griechische Musik einen ebensolchen Bruch dar, wie er gleichzeitig im Verhältnis von mythischen Vorstellungen hin zur griechischen Literatur und Philosophie festzustellen ist: Das Wesen des Menschen, wie es sich der Vernunft zeigt, bildet nun den tragenden Grund der Kunst. War es vorher vor allem der Rhythmus, der z.B. im gemeinsamen Tanz die einzelnen ver- und zusammenbindet, steigt nun die Melodie zu ganz neuer Bedeutung auf, weil in ihr das wesentliche Sich-Befinden des Menschen an sich ausgesprochen werden kann.

Die Zeitenwende hatte die antike Befreiung zunächst durch ihre Anti-Sinnlichkeit verschüttet und erhielt sich den emotionalen Gehalt dieser Musik nur insofern, als die geistliche Musik als einzig verbleibende an diese griechischen Wurzeln anknüpfte. Als die Beruhigung der Zeitläufte nach den Wirren der Völkerwanderung dann auch wieder weltliche und höfische Musik gestattete, war die Spaltung in U- und E-Musik prinzipiell bereits gegeben. Die Kirchenmusik ging eigene Wege in Schulung und Pflege, während die weltliche Tanz- und Unterhaltungsmusik der Höfe auf Volkstanz und Militärmusik zurückgriff. Diese zwei verschiedenen Wege der Tradition hatten aber den Vorteil, dass beide Gattungen sich im Laufe der Zeiten immer wieder gegenseitig befruchten konnten (etwa in Renaissance, Barock und Klassik); gleichzeitig kam der rationalen Durchbildung der Musik, wie Notensystem, Harmonielehre und Stimmenführung, die gelehrte Pflege durch die Kirche zugute.

Die weitere Entwicklung der abendländischen Musik in paralleler Entfaltung zur Selbstbesinnung der Vernunft über Renaissance (also in der Rückwendung auf die verschütteten griechischen Errungenschaften), Barock und Klassik und ihren höchsten Wesensaussagen über den Menschen – Hegel und Beethoven sind wohl nicht zufällig Zeitgenossen … – darf ich als bekannt voraussetzen. Diesem Höhepunkt gegenüber ist die Musik der Romantik eine Rückwendung, als sie von dem erreichten Plateau der psychologischen Schilderung und des Existentiell-Unbedingten sich den Möglichkeiten der subjektiv-emotionalen Aussage und deren Exaltation zuwendet. Jenes "psychologisierende Moment" in der Musik führt Richard Wagner auf den Höhepunkt, indem er den Hörer durch sein "Gesamtkunstwerk" nach der Vorgabe einer mythischen Scheinrationalität in Handlung und Text mittels der Musik emotional überfährt, ihn in den Bann von künstlichen Genüssen schlägt – nicht umsonst tat seine Musik bei Baudelaire eine ganz ähnliche Wirkung wie das Opium: Diese Verführung in einen nervenaufreizenden Rausch ist es, wogegen sich Nietzsche wendet. Auch letzterem bereits geht es zeitlebens und insbesondere im "Der Fall Wagner" bzw. "Nietzsche contra Wagner" um das Verhältnis von traditioneller und Gegenwartsmusik, bzw. wie eine "neue Musik" im und vor allem nach dem "Zeitalter des Nihilismus" denn aussehen könnte. Zu welcher Musik tanzt der Übermensch? Etwa zu derjenigen von Nietzsches Freund Peter Gast (Heinrich Köselitz)?

Die drei nach dieser Bewegung offenstehenden Alternativen wurden auch tatsächlich begangen: erstens mit Brahms, der die Verbindung zur Klassik und damit zur ethischen Aussage in der Musik wahren möchte; zweitens mit Bruckner, der auf romantische Art die unbedingt-religiöse Innerlichkeit des Menschen zu retten sucht; diesen beiden eher konservativen Versuchen steht gegenüber die fortschreitende und "fortschrittliche" Auflösung der Tonalität bei Mahler, die zu Webern, Schönberg und den Experimenten der neuen E-Musik führt. Das aber war tatsächlich die einzig zeit- und entwicklungsgemäße Richtung, wie sich an den gleichzeitigen Aussage- und Ausdrucksmöglichkeiten der anderen Künste ablesen lässt: Auch in der Musik ist das "gute Gewissen" und der Glaube an den schönen Schein und an die Selbsterlösungsfähigkeit des Menschen abhanden gekommen. Die Reflexion der auf sich selbst stehenden Vernunft lässt sich diese schließlich in nuce an die Stelle von emotionalen beziehungsweise ideellen Gehalten der vorgehenden Musik setzen, rationale Miniaturisierung von Motiven (Webern), Verfremdung (Strawinsky) und serielle Techniken (Schönberg) verflüchtigen das Emotionale aus der Musik.

Eine Parallele dazu können wir bereits in der Antike selbst finden, wenn die Tragödie zur Komödie herabsinkt: Den Griechen ist ebenso wie den modernen Komponisten der ideale Gehalt als existentiell tragfähiger abhanden gekommen, die reflektierende Vernunft erkennt den Widerspruch zwischen Realität und Idealität und das Ideal als selbstgemacht – und so macht sie sich darüber lustig. Für die Musik habe ich Ihnen zwei kleine Beispiele mitgebracht, die dies satirische Spiel mit den klassischen Formen aufzeigen können. Es handelt sich um Aufnahmen aus dem Jahr 1956, als Gerard Hoffnung zu einem musikalischen Festival nach London geladen hatte, das sich diesen "diabolischen" Umgang mit den klassischen Vorbildern zur Aufgabe gemacht hatte. So kam etwa neben einem "Klavierkonzert der Klavierkonzerte" (ein kompositorisch hochstehender Verschnitt diverser klassischer "Hits") auch eine "Oper der Opern" zur Aufführung, in der sich berühmte Opernfiguren und Handlungsstränge vereinigten. Grundmoment aller Aufführungen war eine satirische Verfremdung von Bekanntem, die auch Sie vielleicht als "komisch" empfinden werden.

1. Haydns Symphonie mit dem Paukenschlag (1956), Andante (2 Minuten)
2. Großouvertüre von Malcolm Arnold (1956): Schluss der Schlüsse (2 Minuten) (insgesamt: 4 MB)

Ein anderes, Ihnen vielleicht bekanntes Beispiel in dieser Richtung war eine der gelungensten Nummern von HP Kerkeling, der in entsprechender Verkleidung vor illustrem auf Neues wartenden Publikum nebst Pianisten seinen "Hurz-Gesang" als "ars nova" zum Besten gab und von den meisten Hörern durchaus ernst genommen wurde. Eine Beobachtung, die auch an tatsächlich ernstgemeinten Kompositionen zu machen ist: Es fehlen mancher solch formaler Musik die Kriterien, um ihren Aussagegehalt überhaupt mit dem Ohr überprüfen zu können.

Mithin sehen wir wie einst in der griechischen Komödie in der modernen Musik und Literatur jenen berühmten "Verlust der Mitte", der Ursache jener auflösenden Verfremdung ist.

IV. Ein (paralleles) Ende der Metaphysik und der Musik?

Eine "Teilmenge" dieser Auflösungsbewegung sehe ich in jenen Komponisten, die zwar die Harmonie in der Musik angesichts einer unheilvollen Menschheit über Bord werfen; aber dennoch setzen sie für ihr Komponieren in "Disharmonien" und die dadurch mögliche und über die Empfindung transportierte Aussage die ehemalige Harmonie quasi als negative Folie voraus: Die Hörbarkeit der Disharmonie und deren emotionale Auswertung ist ja nur möglich auf dem Hintergrund der verlorenen Harmonie. Richard Strauß, Prokofieff und vor allem Dimitri Schostakowitsch gehen diesen Weg im Festhalten an der ethischen Aussage in der Musik. Einen großen Schritt weiter gehen die modernen Komponisten des späten 20. / beginnenden 21. Jahrhunderts, indem sie bewusst auf dem Bruch mit der Tradition bestehen, und doch etwa bei Wolfgang Rihm der späte Beethoven anklingt oder Gérard Pesson ein Adagio Bruckners zitiert.

Für den Nachvollzug hier kurze Ausschnitte (WMA):

1. Wolfgang Rihm, Musik für drei Streicher (aus III Double, Molto allegro), trio recherche (Melise Mellinger, Violine; Barbara Maurer, Viola; Lucas Fels, Violoncello) (WMA: 2,3 MB)

2. Gérard Pesson, Mes béatitudes (1995), Ensemble Recherche (WMA: 933 KB)

Diese Schilderung der Disharmonie in der Musik scheint mir gut vergleichbar der Formauflösung in der Literatur (Dadaismus) und in der Malerei bei den Kubisten, Surrealisten und Picasso: Auf der Folie der Gegenständlichkeit wird die Deformation des Menschen gezeigt, der sich nicht mehr als ein Ganzes, sondern nur in seiner Befindlichkeit der Zerrissenheit darzustellen vermag.

In dieser Verfremdung der Musik spiegelt sich die Selbstentfremdung des Menschen: Ein Gedanke, den Karl Marx bei Ludwig Feuerbach entlehnt hat. In der Religion – und ebenso in der Kunst – veräußert der Mensch seine wesentlichen Eigenschaften an Gott bzw. an das Kunstwerk. Indem er zuletzt in der Reflexion der Vernunft diese selbstentfremdende Idealisierung als selbstgemacht erkennt, ist er gezwungen, die hineingelegten Ideale wieder abzukassieren, zurück bleibt ihm die leere Form.

Die moderne Musik löst daher bewusst diesen Zusammenhang zwischen Empfindung und Verstand sowie zwischen Rhythmus und Melos auf, verfremdet ihn.(6) Atonalität ist die konsequente Vermeidung von Tonalität, also eine Verweigerung von hergebrachten Harmonie- und Melodie-Zusammenhängen, und primär negativ. Der Grundgedanke der Zwölftontechnik ist, die Atonalität in eine "logische" Ordnung einzubinden. Das aber scheint ein Missverstand: Logik ist ein bloßes Instrument, ohne eigenen Inhalt – desgleichen also auch eine nur "logische Musik". Man opfert die hergebrachten Formen von Rhythmus und Melodie, die in ihrem aufeinander bezogenen Ablauf den nachvollziehbaren Zusammenhang der musikalischen Aussage lieferten, und behält nur noch die "Technik" bei. Ist dies nicht auch auf dem Gebiet der Musik eine Instrumentalisierung der Vernunft, wie sie schon in der "Dialektik der Aufklärung" von Adorno und Horkheimer beklagt wurde?

[Siehe Ergänzung vom April 2009]

Liebe, Innerlichkeit, Lebendigkeit – was wäre die Kunst ohne sie (und natürlich, das Leben überhaupt ...)? Diese Liebe, die im Barock durchaus diesseitig, weltlich zum Ausdruck kommt, in der Klassik innerlich wird bis hin zum gottsuchenden Beethoven(7) ("Übern Wolken muss er wohnen") – ist in der seriellen Musik bzw. in den Rhythmus- und Klangexperimenten der neueren Moderne zwar in manchen Werken überhaupt nicht mehr wahrzunehmen, in vielen Kompositionen jedoch auf indirekte Weise vorhanden. Auch viele der modernen Komponisten bewahren in aller Verfremdung die Verbindung zur Tradition, auch in einer teilweisen Wiederkehr des Tonalen und geben gerade in der Darstellung der Brüche jener Sehnsucht nach dem Ideal-Menschlichen Ausdruck, mit der sich die abendländische Musik einst auf den Weg gemacht hatte.

Zum Schluss zwei Worte auf dem Hintergrund derjenigen musikalischen Darbietungen, die ich hier erleben durfte; gleichzeitig auch als Antwort auf die im Thema gestellte Frage: Die Kompositionen, die darbietenden Künstler und das Publikum haben mich überzeugt, dass einem um das Leben und die "Vererbung" (Rihm) der Musik nicht bange sein muss. Die Lebenslust der vom FBO (Freiburger Barock-Orchester) und seinen Stundenten so schwungvoll vorgetragenen Barockmusik von Telemann und Pisendel kontrastierte natürlich stark mit dem so engagierten wie fulminanten Ausdruck des Ensemble Recherche und seiner Studenten mit Werken von Rihm, Kurtág und Sciarrino – aber beide Stile fesselten das Publikum ebenso wie mich, weil sich in beiden auf je eigene Weise gültig das überzeitliche Wesen des Menschen aussprach.


Mitglieder des Ensemble Recherche und des Freiburger Barockorchesters am 29.07.2005
nach dem gemeinsam musizierten Ricercar a 6 aus dem Musikalischen Opfer BWV 1079 von J.S. Bach

Hören Sie, was Joachim Kaiser in seiner 100-teiligen Sendereihe "Beethoven, Werk und Wirkung" am 18.11.2000 im Bayer. Rundfunk zur Vergegenwärtigung des Kunstwerks und das Verhältnis zum Vorwissen beim Rezipienten zu sagen hatte - seine Äußerungen zum Schauspiel lassen sich 1:1 auf das Hören von Musik übertragen.

Joachim Kaiser in Kaisers Corner Nr. 70 über die Vergegenwärtigung des Kunstwerks (WMA: 1,3 MB)


Soweit das um einige Erweiterungen ergänzte Referat im "Spielraum" der Ensemble-Adademie Freibug vom 31.07.2005. Durch das eigene Miterleben der angesprochenen Live-Aufführungen hatte ich meinen zunächst vorgesehenen Schluss abgeändert, den ich aus nahe liegendem örtlichen Anlass heraus einem berühmten Freiburger, nämlich Martin Heidegger übertragen wollte; er hat sich die Überwindung des Endes der Metaphysik, aus der dann auch wohl eine "neue Musik" entstehen könnte, so vorgestellt:

"Zur Entscheidung steht, ob das Sein selber aus seiner ihm eigenen Wahrheit seinen Bezug zum Wesen des Menschen ereignen kann oder ob die Metaphysik in ihrer Abkehr von ihrem Grunde fernerhin verwehrt, daß der Bezug des Seins zum Menschen aus dem Wesen dieses Bezuges selber zu einem Leuchten kommt, das den Menschen zum Gehören in das Sein bringt."

Dieses Zitat hätte die entstandene lebhafte Diskussion am Ende des Referats nur umso mehr angeheizt, in der zwei Hauptpunkte im Mittelpunkt standen:

– Der "Wert" der neuen Musik
– Die Frage nach der Rezeption der neuen Musik

Der "Wert" der neuen Musik

In meinen Versuch, den Gang der abendländischen Musik als "Vernunft"-Produkt aufzufassen, mit welcher in Parallele zu Religion und Philosophie das Wesen des Menschen ausgesprochen werde, wurde hartnäckig eine "Bewertung" in dem Sinne hinein- und dann wieder herausgelesen, dass die moderne Musik einen "Verfall" etwa gegenüber derjenigen Beethovens darstelle, die ich tatsächlich als einen Höhepunkt der Wesensaussage über den Menschen bezeichnet hatte. Allerdings war nirgends von einem Verfall die Rede, sondern im Gegenteil von einer notwendigen Auflösung selbstgemachter Ideale als Folge der Vernunftreflexion. Darin liegt aber keinesfalls eine Abwertung der davor und danach komponierten Musik, sondern lediglich eine phänomenologische Beschreibung: Am Gang der musikalischen Entwicklung muss sich ebenso wie in der Religion und der Philosophie jener "Kreisbogen der Metaphysik" zeigen lassen, der in seiner Rezeptions- und Reflexionsphase das Vernunftvermögen zunächst ansteigend auswickelt; am Umschlagpunkt von der Rezeption in die Reflexion erfolgt die Leitungsübernahme des Vernunftvermögens; dies bedeutet vor allem, dass nun auch die Religion "vernünftig" werden muss, d.h., die Konsequenzen aus der Wesensschau müssen für die Religion gezogen werden und bewirken die sog. "Zeitenwende", der Mensch erscheint sich selbst und daraus folgend auch die Welt selbst in einem ganz neuen "Licht".

Die Reflexionsphase setzt ein als Rückwendung auf die Antike und zugleich als Befreiung von der dogmatisch gewordenen Religion. Über Renaissance, Barock, Reformation und Aufklärung wird sich der Mensch der deshalb so genannten Neuzeit als Individuum bewusst in dem Sinne, dass er sich nunmehr als vernünftig denkendes und handelndes Wesen be- und ergreift ("cogito, ergo sum"). Im reflektierenden Überblick auf das von der Vernunftrezeption Angehäufte werden so naturgemäß jene höchsten Wesensaussagen der sich selbst bewussten Vernunft möglich, wie sie Hegel und Beethoven schildern. Diese Bewertung "höchste Wesensaussage" meint aber keine vergleichende Bewertung von konkurrierenden Werken, sondern ist ausschließlich bezogen auf den Kreisbogen des Vernunftvermögens selbst, das nun einmal im Lauf seiner Auswicklung einen Höhepunkt erreicht und überschreitet und an diesem Punkt das Maximum seiner Aussagemöglichkeit kundgibt. Das besagt aber noch gar nichts über "Wahrheit" und "Wert" dieser Aussagen innerhalb der geschichtlichen Tradition, sondern ist eine rein funktionale Aussage im Hinblick auf den Entwicklungsverlauf der Vernunft selbst. So kann man, wenn man nur die funktionalen Bilder in rechter Weise besieht, gerade die moderne Musik als die neueste und "höchste" Auswicklung beschreiben:

Der "Kreisbogen der Metaphysik" ist ein Kreis nur von oben gesehen; bewegen wir uns einmal neben diese Kreislinie, so wird sich ergeben, dass diese in Wirklichkeit eine raumzeitliche Spirale darstellt, deren erster Halbkreis die Rezeption, und deren zweiter die Reflexion der Vernunft ausmacht. Am höchsten End- und Jetztpunkt aber finden wir dann gerade die neue Musik, die ihre derzeitigen Wesensaussagen über den Menschen macht, dessen Bruchstückhaftigkeit sie schildert. Die Klassik ist dazu ein vergangenes Unterhalb – oder anders ausgedrückt: alle Wesensaussagen der Vernunft in der Musik sind auf ihre Weise gleich gültig, wenn es denn wirklich "vererbbare Wesenaussagen" sind, die den Kern und Geist der jeweiligen Epoche treffen und übertreffen. Als solche gehen sie in den unverlierbaren Traditionsbestand ein, solange der Mensch nicht die Vernunft selbst preisgibt. Es wäre denn auch ganz merkwürdig (und mystisch-metaphysisch wie bei Heidegger), wenn die Lebensaufgabe und Kunst der einen Epoche "wertvoller" sein sollte als diejenige einer anderen: Auf einem Kreisbogen gehören alle einzelnen Punkte völlig gleichberechtigt zueinander, und doch hat jeder Punkt seine eigene und unterschiedliche Stelle auf der Spirale.

Die Frage nach der Rezeption der neuen Musik

Die Diskussion entzündete sich daran, dass von mir von der funktionalen Leere mancher moderner Komposition gesprochen wurde, insbesondere bei der seriellen, "rein logischen" Musik, aber auch bei noch neueren Komponisten wie etwa Brian Ferneyhough, von der ich sagte, dass sie mich ganz ratlos lasse, um damit auszudrücken, dass mir bei dieser jeder emotionale, rhythmische oder melodiöse Zusammenhang fehle, aus dem heraus sich erst eine Aussage ergeben könne. Darauf wurde entgegnet, dass man sich vielleicht zuerst einmal um das eigene Rezeptionsverhalten kümmern solle, denn andern "sage" diese Musik wohl doch etwas, mithin sei hier möglicherweise ein subjektives Versagen verantwortlich. Unter diesem Aspekt zunächst ein kleines zufälliges Beispiel für Ferneyhough’s Musik:

Brian Ferneyhough, Flurries (1997; Ausschnitt), ensemble recherche (WMA: 1,439 MB)

Die Subjektivität des Hörerlebens hatte ich in II. ausdrücklich selbst beschrieben; es kann also immer zweierlei Ursachen haben, ob man einer Musik etwas entnehmen kann oder nicht: entweder, es fehlen dem Subjekt die entsprechenden Hörgewohnheiten ("Entgegenkommen"), oder die Musik ist, wie etwa eine rein logische serielle Musik, von Haus aus "leer", was deren emotionalen und rationalen Gehalt anlangt. Diese Gemengelage macht die Beurteilung natürlich schwierig. Die subjektive Voraussetzung lässt sich nie "beweisen", sondern kann nur faktisch geführt werden: ich höre etwas, oder ich höre nichts.

Insofern scheint es mir sinnvoller, und so hatte ich dies denn auch angesprochen, von den objektiven Kriterien auszugehen, die jeder feststellen kann: Gibt es einen Rhythmus? Ist eine (oder mehrere) Melodie vorhanden, und sei es noch so verfremdet, jedenfalls in dem Sinne, dass sich die in der Zeit ablaufenden Töne aufeinander beziehen und emotional "etwas hergeben"? Beziehen sich die verschiedenen Stimmen, Instrumente nachvollziehbar aufeinander, so dass die Kommunikation der Stimmen aussageträchtig ist? All dies, als formale Kriterien, scheint mir die Musik von Ferneyhough nicht zu enthalten, und deshalb komme ich subjektiv und objektiv zur Erfahrung der Leere. Da hülfe mir denn auch keine weitere Rezeptionsschulung, denn durch diese könnte das Fehlen dieser Kriterien ja nicht ausgemerzt werden.

Anders mag es für den Spezialisten, vor allem den ausführenden Musiker stehen (was bei dieser Art von Musik wahrlich schwierig genug ist): Ihm mag das "Neuartige", das zeitlich und räumlich aufeinander nicht bezogene Erklingen von Tonfetzen, gerade auch in seiner technischen Problematik ein befriedigendes intellektuelles Erleben bieten, und auch das gelungene Zusammenspiel des gesamten Ensembles wirkt sich sicher als positive Erfahrung aus. Aber nicht jeder ist in der Lage solcher Spezialisten, und es kann sicher nicht Sinn und Zweck der neuen Musik sein, dass der Rezipient, um hier hören zu dürfen, zunächst eine höhere musikalische Ausbildung durchlaufen muss.

Jedenfalls bin ich aus meiner eigenen Erfahrung, die sich seit Jahrzehnten um die Rezeption von Musik aus allen Zeiten bemüht, und aus der Beobachtung meiner musikhörenden Mitmenschen heraus ganz sicher, dass weit über 90% aller Musikliebenden mit einer Musik, soweit sie im genannten Sinn von inhaltlicher Leere geprägt ist, nichts werden anfangen können. Nicht, weil ihnen das Entgegenkommen fehlt, sondern weil ihnen nichts entgegenkommt.

Dies aber scheint mir, auch und gerade in der neuen Musik, selbst die Ausnahme zu sein; insofern ist es sehr lohnend, sich mit ihr – und selbst in solchen Grenzfällen wie Brian Ferneyhough – aktiv auseinanderzusetzen und sie insbesondere live gespielt zu erleben; sie vermittelt dann sehr wohl etwas von der leidenschaftlichen Auseinandersetzung der heutigen Künstler mit den Bedingungen des Menschseins unter dem Vorzeichen der reflektierten Vernunft.

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Nachtrag 1 (10.09.2005): Dass arrivierte moderne Komponisten einen vergleichbaren Standpunkt einnehmen, mag der folgende Ausschnitt eines Interviews (Christian Strehk) der Kieler Nachrichten vom 09. September 2005 mit Siegfried Matthus (s.a. http://www.siegfried-matthus.de) aufzeigen(8):

Eine noch spektakulärere Uraufführung steht demnächst in Dresden an. Ihr neues "Te Deum" wird unter Kurt Masur die Wiedereröffnung der Frauenkirche "einläuten".
Das ist vielleicht der wichtigste Kompositionsauftrag in meinem Leben. Wann kommt auf einen Komponisten schon einmal die Einweihung einer so berühmten und großen Kirche zu. Dass man da an mich gedacht hat, ehrt mich sehr und hat mich sehr berührt. Der Hintergrund ist natürlich der, dass ich schon sehr viele Uraufführungen in Dresden hatte – beispielsweise zur Wiedereröffnung der Semper-Oper meine Rilke-Oper. Mit dem Te Deum war eine hochinteressante Aufgabe zu lösen, dramaturgisch beispielsweise. Ich habe nicht nur den lateinischen Liturgietext benutzt, sondern ähnlich wie Benjamin Britten in seinem War Requiem anderes, etwa Zeitdokumente von der Zerstörung der Kirche eingefügt. Entsprechend dramatisch ist das Werk ausgefallen.
Und was tun Sie seit der Fertigstellung eines derart gewichtigen Werkes?
Im Moment arbeite ich wieder an einer Oper. Mir sind Skizzen von Nietzsche zu einer Oper über Cosima Wagner in die Hände gefallen.(*)
Erfüllt es Sie eigentlich mit Genugtuung, dass genau das, was Ihnen beispielsweise von den Dogmatikern der Neuen Musik immer scharf vorgeworfen wurde, inzwischen zum Allgemeingut eines befreiten Komponierens im 21. Jahrhunderts geworden ist?
Das ist schon ein wichtiger Punkt. Ich habe mich dem Dogmatismus sowohl in der DDR als auch im Westen, der ja in der seriellen Periode schlimme Auswüchse hatte, nie unterworfen. Natürlich habe ich mich trotzdem damit auseinandergesetzt. Aber ich denke inzwischen eine musikalische Sprache gefunden zu haben, die das Substanzielle dieser modernen Errungenschaften beherrscht und berücksichtigt, aber dabei stets einer Verständlichkeit verpflichtet ist. Meine Musik geht auf den Hörer zu. Und das heißt ja nicht, dass sie deshalb simpel sein muss oder uneigenständig. Gerade dann muss man sich abgrenzen können.

(*) Inzwischen wurde diese Oper "Cosima" fertiggestellt und in Braunschweig und Gera Anfang Mai 2007 uraufgeführt. Lesen Sie einen ausführlichen Bericht dazu auf meiner Nietzsche-Seite!

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Nachtrag 2 (10.05.2007): In seinem soeben erschienenen Buch "Die Materie und ihre Schatten", Alibri Verlag, Aschaffenburg 2007, S. 250, geht der Gießener Philosoph Bernulf Kanitscheider ebenfalls auf die Problematik der modernen Musik ein und kommt unter dem Kaptiteltitel "Musik als Refugium des Hedonismus?"zu folgendem im Grunde vernichtenden Urteil:

"Dabei ist die Erklärungskraft des physikalistischen Paradigmas noch bei weitem nicht ausgeschöpft. Es bleibt bis heute eine offene Frage, ob das menschliche Sensorium eine innere, ererbte Prädisposition besitzt, bestimmte Klänge als angenehm zu empfinden oder ob hier allein Kultustradition wirksam ist. Als gesellschaftliches Faktum kann man nicht übersehen, dass auch beim hörgeschulten Konzertpublikum atonale, serielle, dodekaphone, aleatorische Musik, wie sie sich seit Beginn des vorigen Jahrhunderts entwickelt hat, auf fast völlige Ablehnung stößt, ja dass die nun 100 Jahre währenden Versuche der Konzertveranstalter, die Akzeptanz für neue hochdissonante Musik zu erzwingen, gescheitert sind, was auf der Seite der Komponisten zumeist trotzige Resignation und Verachtung für die Musikkonsumenten ausgelöst hat. Auch hier erscheint mit die Fragestellung fruchtbar, ob die Verweigerung der Dissonanz als systematisches Konstruktionselement, nicht als spannungserhöhende Durchgangspassage, ihre Gründe in der menschlichen Natur hat, die sich letztlich nicht verändern lässt. Wenn dem so wäre, und es spricht einiges dafür, dann ergäbe sich letztlich auch eine naturalistische Erklärung für den Typus der am stärksten akzeptierten Musikform. Nicht historische und gesellschaftliche Konvention, sondern genetische Disposition gäbe den Ausschlag für das, was uns Menschen musikalische Freude bereitet. Verwunderlich erscheint dies nicht: Wenn das Spracherlernen auf einer evolutionsbiologischen Voraussetzung beruht, wenn für sexuelles Empfinden die Struktur der Organe maßgebend ist, warum soll Musikerleben nicht in gleicher Weise einem stammesgeschichtlich gewachsenen Fundament aufruhen? Das Gegenteil wäre sonderbar. Daraus lässt sich sogar eine prognostische Perspektive gewinnen. Man kann die Voraussage wagen, dass kein Anpassungsprozess nach und nach jede beliebige Klangkombination im Wandel der Zeit als akzeptabel erscheinen lässt. Möglicherweise werden die 300 Jahre Musikgeschichte von 1600 bis 1900 als Kulmination in die Entwicklung eingehen. Jedenfalls ist dies plausibler, als dass dereinst aus den Lautsprechern unserer Nachfahren fröhliche Zwölftonschlager ertönen und die Konzertsäle nur mehr mit durch Zufallsgeneratoren erzeugten aleatorischen Klangformen gefüllt sein werden. Die 100 Jahre Verweigerung jeglicher Akzeptanz von durchwegs dissonanter Musik sind eine ausreichende Stichprobe, um die Hypothese zu wagen, dass Musik kein rein kulturelles Phänomen darstellt, das die „tabula rasa“ des menschlichen Empfindens mit beliebiger Kakophonie beglücken kann."

Wie oben gesehen, reicht mir persönlich diese rein naturalistische und insgesamt wohl etwas reduktionistische Erklärung nicht ganz aus, wenn hier das Scheitern der modernen Musik allein auf die Dissonanz und die Neigung des Menschen zur Harmonie zurückgeführt wird. Neben der tatsächlich sicher wirksam werdenden Dissonanz ist es für mich vor allem die inhaltiche Leere etwa der seriellen Musik, welche dem Hörer keinerlei für Ratio und Emotio rückübersetzbaren Sinngehalt mehr zur Verfügung stellt, nicht auf den Hörer zugeht, und so allein gelassen lässt er eben auch solche Aufführungen allein ...

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Nachtrag 3 (03.04.2009): Der prominente finnische Komponist Kalevi Aho bietet unter dem Titel: "Der Komponist, der Fortschritt und die Werte" eine ausgezeichnete Darstellung des derzeitigen Zustandes; in vielerlei Hinsicht kommt er zu ganz ähnlichen Ergebnissen, wie sie hier von mir vorgetragen werden, z.B.: "Die Ansicht, dass sich Fortschritt vor allem in der Neuheit des Materials oder der Sprache manifestiere, leugnet folglich den Wert von allem, was alt ist. Ein Komponist wird sich vielleicht entscheiden, Tonalität, Dreiklänge, Melodie und klar definierbares Metrum aufzugeben, eine Entscheidung, die seine Musik mit Sicherheit anders klingen lassen wird als alles, was vor 100 Jahren so geschrieben wurde. Indem das, was Tradition eigentlich ausmacht, geleugnet wird, ist Musik ohne Geschichte entstanden – geschichtslose Musik. Aber bedeutet das denn, dass diese Musik fortschrittlicher geworden ist und deshalb zeitlos?"
"Ein Grund ist die Arroganz der modernistischen Kunstphilosophie und ihre Haltung zur Überlieferung und zu den Leistungen der Vergangenheit. Etwas Wertvolles ist im Namen des Fortschritts aufgegeben worden – genau das, was die Musik von Bach und Mozart zeitlos und universell macht."
"Ein Problem der Rezeption moderner Musik ist auch die Haltung vieler moderner Komponisten, die ich narzisstischen Absolutismus nenne. Diese Einstellung verlangt sowohl von Musikern als auch vom Publikum, sich bedingungslos der künstlerischen Vision des Komponisten zu unterwerfen, der sich davor drückt, was ich für seine oberste Verantwortung erachte: jener den Musikern und den Hörern gegenüber."
"Die Wiederentdeckung des Publikums: Hörern glaubhaft machen, dass Musik Bedeutung hat, die Gefühle der Hörer ansprechen und sich ihrer Bedürfnisse annehmen. Wir müssen uns genauer damit beschäftigen, was der zeitgenössischen Musik fehlt und was das Publikum in ihr sucht – und nicht findet. Zwei Aspekte, die Hörer ansprechen sind Stille und „Sakralität.“ Unter „Sakralität“ verstehe ich Augenblicke der Transzendenz, *[Augenblicke des „Durchbruchs“ (wie das Mahler genannt hat)], die sich sowohl in weltlicher als auch sakraler Musik finden. Im Unterschied zu Tavener finde ich solche „Zonen des Heiligen“ auch in nichtsakralen Kompositionen, etwa im Spätwerk Beethovens. Paradoxer Weise fällt es mir jedoch schwer, ähnliche Augenblicke der universellen geheimnisvollen Transzendenz in Taveners sakralen Werken zu finden."
"Der Komponist muss fähig sein, der Musik sinnvollen und tiefer gehenden emotionalen Gehalt wiederzugeben. Warum gehen Menschen denn überhaupt ins Konzert? Vielleicht wollen sie von ihrem Alltagsleben Abstand gewinnen und Schönheit erfahren; vielleicht sind sie verzweifelt und suchen Trost in der Musik; vielleicht sind sie glücklich verliebt und wollen diese Gefühle in der Musik wiedererkennen; sie gehen vielleicht in ein Konzert, um neue Kräfte zu gewinnen; oder sie erwarten von der Musik so etwas wie Dramatik."
Den gesamten Text finden Sie hier im Internet.

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Nachtrag 4 (28.04.2009): Am 26.04.2009 folgte ich der Einladung des HVD Nürnberg, das Referat an einer sonntäglichen Matinee vorzustellen; aus diesem Anlass habe ich den Text um den nachfolgenden Teil erweitert, der die Problematik der seriellen Komponierweise einmal mehr veranschaulichen möchte:

Neben der tatsächlich sicher negativ wirksam werdenden Dissonanz ist es vor allem die inhaltliche Leere etwa der seriellen Musik, welche dem Hörer keinerlei für Ratio und Emotio rückübersetzbaren Sinngehalt mehr zur Verfügung stellt, nicht auf den Hörer zugeht, und so allein gelassen lässt er eben auch solche Aufführungen allein ...
Ebenso, wie sich Schönberg die Zwölftontechnik erfand, um daraus serielle Musik zu destillieren, könnte man den Dadaismus in der Weise weiterführen und ihm damit ein „logisches Gerüst“ geben, dass man für eine „Neue Literatur“ die „26-Buchstaben-Regel“ einführt. Ich habe mir mal den Spaß gemacht, auf diese Art und Weise einen kurzen „Text“ zu „dichten“, so dass also der gleiche Buchstabe erst wiederkehren darf, wenn die ganze „Reihe“ des Alphabets durch ist; dabei habe ich zugleich das Verfahren von Pesson und Rihm mit eingearbeitet, inmitten eines solch „seriellen Textes“ ein bekanntes Stück Literatur verfremdet zu zitieren, so dass insoweit an dieser Stelle eine gewisse Wiedererkennbarkeit gegeben ist. Also, versuchen wir mal eine solche Parallelisierung:

Seriell 1: fyjupnhilmocbraqstegikxdez
Zitat: „fruede schenö gutterfönken, techtör uas ylesuim, riw betetren fueertrenkun, hilmmeschi dien hiliegtium“
Seriell 2: zedxkigetsqarbcomlihnpujyf

Es wäre nun kein großes Problem, sich dazu noch verschiedene „Konstruktionsregeln“ zu erfinden, wie etwa Gruppenbildung von Buchstaben, oder jeden 5. Ton nacheinander zu verwenden, oder „Spiegelungen“, wie sie bei der Komposition von Musik ja tatsächlich Verwendung fanden. Doch würde dadurch ein solcher Text „aussagekräftiger“?
Würden Sie ein Buch lesen, das auf diese Weise gedichtet wurde, und wo Sie vielleicht an der einen oder anderen Stelle die Chance haben, ein kleines Stück Zitat aus der Weltliteratur zu entdecken? Sicher nicht, sondern Sie würden ein solches „Buch“ nach wenigen Zeilen entnervt weglegen. Denn wenn ein Autor uns etwas sagen will, und das gilt natürlich genauso für den Komponisten, so muss er sich einer Sprache bedienen, die wir verstehen können – und auch Musik ist eine Sprache. Wenn er sich eine Art „Geheimsprache“ neu erfindet, wie etwa die Zwölfton-Regel, so ist das natürlich sein gutes Recht, aber ob er damit auf viele Leser/Hörer hoffen darf, das ist doch sehr die Frage.


Anmerkungen:

(1) Siehe Sinn und Form, Erstes Heft, Januar/Februar 2005, Wolfgang Rihm, Gespräch mit George Steiner:
STEINER: ... Die Musik besiegt den Tod, aber dann besiegt das Mysterium tremendum die Musik. Orpheus stirbt, von den Mänaden zerrissen. Dann kommt etwas, das für uns heute abend wichtig ist: Der Körper blutet aus, aber, das ist eine archaische Überlieferung, der Kopf singt weiter. Aus dem Mund des toten Orpheus strömt Musik. Das zweite Thema ist Marsyas, dieser grausame, furchtbare Mythos vom Kampf zwischen ihm und Apollon, in dem Marsyas geschändet wird. Auf Tizians berühmtem Gemälde finden wir alle Motive unseres heutigen Gesprächs. Es ist das größte seiner Bilder, und auch das grausamste. Worum ging es in dem Kampf? In dem Logos Apollons heißt es: Musik ist das Ornament der Sprache. Und Marsyas sagt: Der Wind ist Musik, der Vogel singt Musik, das Meeresrauschen ist Musik. Die Sprache ist ein später Gast und ein falscher. Dann das Sirenen-Motiv. Der Gesang tötet, er hält ganz mysteriös das Versprechen. Was sagen die Sirenen? Wir können dir sagen, was in der Welt war, was in der Welt ist und was in ihr sein wird. Die Verheißung des Alten Testaments. Die Verheißung des Baums im Paradies, des Baums der Wissenschaft, des Wissens. Hör unserem Gesang zu. Odysseus überlebt, er segelt weiter. Das war der letzte Moment, wo der Mensch in der Musik die Urkraft der Schöpfung hören konnte. Aber die Warnung war da: Musik ist übermenschlich, aber auch unmenschlich. Schopenhauer sagt: Auch wenn die Welt nicht wäre, könnte die Musik bestehen. Ich bin sicher, der Satz stimmt. Zuerst sind wir Gäste der Musik. Vielleicht kommt die Sprache erst viel später. Es ist möglich, sich eine Kultur ohne Sprache vorzustellen, aber nicht ohne Musik. (Hervorhebung d. Verf.) …
RIHM: Die drei Gestalten: Marsyas, ich nenne ihn bewusst zuerst, Orpheus und Odysseus bei den Sirenen interpretiere ich so: Marsyas ist der Komponisten-Mythos, Orpheus der Interpreten-Mythos und Odysseus bei den Sirenen der Rezipienten-Mythos. Odysseus wollte die Sirenen ja wirklich hören. Deswegen läßt er sich an den Mast binden und von seinen Gefährten, deren Ohren er mit Wachs verstopft hat, an den Sirenen vorbeirudern. Er will sich dem aussetzen, er will die Erfahrung machen, er will davon berichten können, er will wissen, was da geschieht. Doch was hört er? Vielleicht, und deshalb ist es für mich der Rezipienten-Mythos, vielleicht hört er sein Hören. Vielleicht hört er alles, was zu hören ihm möglich ist. Vielleicht wird er mit einer Schicht in sich konfrontiert, die durch dieses Hörenwollen erst entstanden, in Vibration gekommen ist. Orpheus dagegen ist jener, der durch die Präsentation des Klanges über alles gebietet. Orpheus komponiert nicht, er interpretiert, er singt. Er ist das Gefäß, aus dem es strömt. Aber Marsyas, das bin ich selber.

(2) Das Zeitverständnis des Verstandes ist ein anderes als das der Vernunft, sowohl phylo- als auch ontogenetisch: Im ersteren Fall ist Zeit als Dauer wesentlich statischer, deshalb will sie uns in den Kindesjahren auch so gar nicht vergehen ... sie ist eher zu begreifen als Dauer, etwa einer Regentschaft, die von der nächsten Regentschaft abgelöst wird, wie es das Zeitverständnis der alten Völker deutlich zeigt. Die Vernunft interpretiert dagegen den Verlauf des Nacheinander als Zeitpfeil, als stete Bewegung der Gegenwart aus der Vergangenheit in die Zukunft, deren Geschwindigkeit mit zunehmendem Alter, aber auch durch die Beschleunigung der zivilisatorischen Abläufe auch noch anzusteigen scheint.

(3) Kant ist hier den Restidealismus der Annahme eines platonischen "Seins an sich" nicht losgeworden.

(4) KSA I, 269

(5) "Denn die Musik ist, wie gesagt, darin von allen andern Künsten verschieden, daß sie nicht Abbild der Erscheinung, oder richtiger, der adäquaten Objektität des Willens, sondern unmittelbar Abbild des Willens selbst ist und also zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich darstellt." [Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung, S. 546. Digitale Bibliothek Band 2: Philosophie, S. 63594 (vgl. Schopenhauer-ZA Bd. 1, S. 330)]

(6) Aus einer Rezension zu Wolfgang Rihms Trios: "…Wolfgang Rihm [steht] für eine Aufhebung einer "Zusammenhangsästhetik" in der Musik. … Ein Loslösen vom Zwang des musikalischen Zusammenhangs, einer melodischen, rhythmischen und gestischen Einheit bedeutet für Rihm immer wieder die Suche nach neuen Fragestellungen, nach Fremdheiten in der Musik und die Arbeit mit Brüchen." (Nina Polaschegg bei Amazon) Rihm selbst spricht davon, dass man es beim Umgang mit der musikalischen Tradition mit "Leichen" zu tun habe, denen gegenüber es gelte, selbst eigene lebendige und "vererbbare Musik" hervorzubringen.

(7) Ähnlich, wenn auch auf seine Weise, Benedikt XVI. am 30.07.05 bei Radio Vatikan: "Auch für Beethoven, diesem in einer Wende der Zeiten ringenden und leidenden Menschen, war es offenbar ein inneres Muss, nach der auf die liturgischen Möglichkeiten bedachten Messe in C eine große Messkomposition zu schaffen, in die er seine ganze Seele, die Leidenschaft seines Ringens mit Gott hineinlegte, ohne sich von der Frage nach der praktischen Realisierbarkeit des Werkes einengen zu lassen. Die "Missa solemnis" ist nicht mehr eigentlich liturgische Musik; das Subjekt mit seiner ganzen Leidenschaft und Größe tritt nun - der veränderten Geschichtsstunde entsprechend - in den Vordergrund. Auch der Glaube der Kirche ist jetzt nicht mehr als selbstverständliche Vorgabe da. Die Gebetsworte der Menschen werden nun zu Wegen des Ringens um Gott, des Leidens an Gott und an sich selbst, aber so auch zu Stufen einer Leiter, an der der Mensch sich festhält, durch die er Gott festhält, ihm entgegen geht und so auch die Freude an Gott auch neu erfährt. In diesem Sinn ist die "Missa solemnis" ein immer von neuem erschütterndes Zeugnis eines suchenden Glaubens, der Gott nicht loslässt und ihn über das Beten der Jahrhunderte neu ertastet."

(8) Quelle Internet: http://www.kn-online.de/news/archiv/?id=1710247 / Kieler Nachrichten vom 09.09.2005, Interview von Christian Strehk


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