Ethik und Utilitarismus
Singers „Praktische Ethik“

Helmut Walther (Nürnberg)


Gegenstand dieser Ausführungen sind weniger die konkreten Ergebnisse Singers im Hinblick auf Tötung, Eigentumsverteilung, Flüchtlingsproblematik, Asylrecht und Umweltethik; eine vorurteilslose und vernunftgeleitete Anschauung wird notwendig zu gleichen oder jedenfalls ähnlichen Ergebnissen gelangen. Ein anderes gilt für den Weg zu diesen Ergebnissen, denn an diesem wird es liegen, ob die propagierten Ergebnisse mit Überzeugungskraft vertreten werden können und Ausstrahlung auf die Lebenswirklichkeit entfalten. Peter Singer will mit seiner „Praktischen Ethik“ Zustände verändern, die durch menschliches Verhalten herbeigeführt werden. Dann muß er den Menschen jedoch einen Grund liefern, warum es besser sein sollte, ihr Verhalten zu ändern, als so weiterzumachen wie bisher. Dieser Grund muß einen Wert darstellen, der die Veränderung der Zustände erstrebenswert erscheinen läßt. Dieser Wert sollte viele, am besten alle Menschen ansprechen, weil nur dann die erhofften Veränderungen die erstrebten Wirkungen haben werden. Wie Singer schildert, sind ihm jedoch vor allem in Deutschland im Zusammenhang von Euthanasie und Behinderung divergierende Meinungen im Wortsinne entgegengeschlagen: die eigentlichen Grundgedanken wurden nicht zur Kenntnis genommen, die Konsequenzen dieser Grundgedanken wurden aus verinnerlichten Vorurteilen angegriffen. Es könnte sein, daß ein Teil dieser Angreifbarkeit daraus resultiert, wie Singer selbst den Weg zur Problemlösung begründet, indem er versucht, seine Ethik auf den Utilitarismus zu stellen. Nach der hier vorzutragenden Auffassung steht damit die Ethik auf dem Kopf und muß deshalb sowohl religiöse Menschen wie von innen her ethisch bewegte Menschen zurückstoßen, ohne daß dafür eine innere Notwendigkeit besteht, wenn Ethik nämlich auf ihren eigenen Füßen stünde – was offensichtlich nicht der Fall ist, wenn sie auf den Utilitarismus gegründet wird. Dieser Rückzug auf den Utilitarismus beginnt bereits mit dem zunächst nicht sonderlich bedeutsam erscheinenden Ansatz, Moral und Ethik seien „austauschbare Wörter“, zwischen denen nicht unterschieden werde. Eine solche Gleichsetzung macht nur Sinn, wenn sie sachlich und formal geboten erscheint und begründet wird, etwa daß sie neuen Erkenntnisgewinn verspricht oder zur Vereinfachung des Gegenstands beiträgt. Wie sich ergeben wird, ist jedoch das Gegenteil der Fall. Die nämliche Beobachtung einer eingeengten Perspektive läßt sich auch an dem gewählten Titel „Praktische Ethik“ anstellen, mit dem Singer zwei Fliegen auf einen Schlag zu treffen hofft: zum ersten grenzt er sich damit von aller angeblichen Metaphysik ab, indem er zu verstehen gibt, seine Ethik befasse sich ausschließlich mit wirklichkeitsnahen und anwendbaren Moralfragen, nicht jedoch mit idealistischen Luftschlössern (wie offenbar die Ethik bisher). Zum andern setzt eine Ethik, die sich ausschließlich als Anleitung für die Praxis versteht, alles, was überhaupt gewollt beziehungsweise abgelehnt werden kann, bereits voraus – eine solche Ethik sieht sich als Instrumentarium in einer vorhandenen Wirklichkeit, auf deren „utopisch-idealistische“ Veränderung sie ausdrücklich verzichtet, weil es ihr lediglich um konkrete Ergebnisse in der Leidminimierung und Glücksmaximierung geht. Selbst solche eher vordergründigen Erfolge sind aber ohne weitreichende, letztlich idealistisch begründete und utopische Verhaltensänderungen aller Menschen nicht erreichbar, und so zeigt sich schon im Titel die Paradoxie des Singer’schen Ansatzes: eine derartige „Ethik“ begibt sich ihrer eigentlichen Potenz, auf die Wertvorstellungen und damit auf den Willen und dessen Gewolltes zu wirken, und ist dennoch gezwungen, nunmehr im Namen des Utilitarismus unter manchmal abenteuerlich anmutenden Gedankenverrenkungen Verhaltensänderungen einzufordern, die mit der bisherigen Praxis nicht übereinstimmen. Dieses das ganze Buch durchziehende Dilemma wird sofort daran sichtbar, wie Singer das Wesen der Ethik zu bestimmen versucht:

Es gelte: Ethik ist nicht

a) Verbotsmoral als einzelner Moralkodex aus einem bestimmten Blickwinkel, etwa als moralisierende Vorschriften bezüglich der Sexualität. Diese im Prinzip richtige Aussage muß tatsächlich wesentlich weiter gefaßt werden, und sie ist eines der Argumente gegen die Gleichsetzung von Moral und Ethik; denn in dieser Abweisung von divergierenden Moralsystemen bestätigt auch Singer, daß die verschiedenen Kodizes der Völker, wie etwa der jüdische Dekalog, der Kodex des Hammurapi, die Gesetzgebungen eines Solon oder Lykurg oder die römischen „Leges duodecim tabularum“ als von bestimmten örtlichen und zeitlichen Umständen abhängige Ge- und Verbotsvorschriften zwar sehr wohl jeweils ein Moralsystem des reflektierten Verstandes, aber eben damit noch keine Ethik der Vernunft darstellen.

b) ein idealistisch-utopisches System, das für die Praxis jedoch untauglich wäre: „der ganze Zweck moralischer [ethischer] Urteile liegt darin, die Praxis anzuleiten.“ Dies ist lediglich eine Abwandlung von Kant’s Behauptung, daß alleiniger Gegenstand der Vernunft die Anleitung des Verstandes sei. Utopismus leide vielmehr an einem „theoretischen Defekt“. Damit soll der idealistische Impetus abgewehrt werden, obwohl der Utilitarismus die nämliche Differenz wie der Idealismus zwischen Ist und Soll hinsichtlich der Kommunikation „rationaler und selbstbewußter Entitäten“ sieht und beheben will.

Das Versagen einer Ethik [Moral] der „einfachen Regeln“ sei kein Versagen der Ethik, sondern lediglich das Versagen einer Auffassung von Ethik. In die Gefahr der Nichtübereinstimmung mit der Wirklichkeit (wie etwa der Idealismus oder eine einseitige Moral) gerate vor allem nicht der Utilitarismus (konsequentialistische oder teleologische Theorie), in dem Handlungen danach beurteilt würden, ob sie die richtigen Ziele beförderten; richtig sei eine Handlung, die „ebensoviel oder mehr Zuwachs an Glück für alle Betroffenen produziert als jede andere Handlung, und ... falsch, wenn sie das nicht tut.“ Der Utilitarist leide zumindest nicht an „Mangel an Realitätssinn“ oder an einer „rigiden Befolgung von Idealen“.

Das „richtige Handeln“ dieses Utilitarismus sieht auf den ersten Blick geradeso aus wie in wirklicher Ethik; doch die Richtigkeit ist hier eine ganz andere als die der Vernunft: hinter ihr verbirgt sich tatsächlich das utilitaristische Prinzip, das „Glück“ der Individuen, ein subjektiver und letztlich emotional unterfütterter Begriff als das Angenehme beziehungsweise das Nützliche. Einerseits werden hier also Ethik und Moral auf einer Mitte zwischen Verstand und Vernunft verschmolzen; andererseits bestimmt sich der grundlegende Wert einer solchen „ethischen Moral“ nicht aus der Vernunft, sondern aus der Emotio und dem Verstand. Der Unterschied zu den früheren Idealismen liegt darin, daß die Unstimmigkeit zwischen realem Ist und idealem Soll nicht auf der Basis eines neuen Wertes der Vernunft behoben werden soll; vielmehr sollen mittels des funktionalen Vernunftprinzips der Wesensgleichheit die verschiedenen Werte des Verstandes egalisiert werden. Die Perspektive des Utilitarismus und seine Grundstellung lassen sich zeigen, wenn man sie mit derjenigen Nietzsches vergleicht: im „Willen zur Macht“ wirft die „blonde Bestie“ mit dem Ziel des „Übermenschen“ sowohl die Werte der Vernunft als auch deren funktionale Wesensschau und die daraus folgende Gleichheit über Bord (beides mittels der Vernunft im Namen der Instinkte). Demgegenüber hält der Utilitarismus als Restideal der Wesensschau des Vernunftvermögens die Gleichheit „rationaler und selbstbewußter Entitäten“ einschließlich empfindender Tiere fest, verwirft aber die eigenen Werte der Vernunft als Innerlichkeit im Namen der Glücksinteressen des Verstandes. Nietzsche sagt sich also vom Geist der Vernunft in seinen beiden Bedeutungen als Vermögen (Wesensschau) und als Innerlichkeit (Ethik) los, wo der Utilitarismus nur den Geist der Vernunft als Innerlichkeit ablehnt, deren werthafte Ethik, die als utopischer Idealismus und Metaphysik denunziert wird. Das ist der Grund, warum Singer Moral und Ethik gleichsetzt, gleichsetzen muß: das Verwerfen der seit der Antike von Sokrates, Platon und Aristoteles her ausgewickelten Vernunftethik bis hin zum Idealismus und der Ideologie als Metaphysik räumt den Platz frei, erzwingt aber damit gleichzeitig die Suche nach einem neuen (alten) Fundament in der Rückwendung der Vernunft auf die Verstandeswerte der Moral (wo sich Nietzsche gar hinab in die Instinkte begab).

c) „etwas, das nur im Kontext der Religion verständlich wäre.“

a) Das „Gute“ kann nicht als das von Gott „Gebilligte“ bestimmt werden, weil von Gott diejenigen Taten gebilligt werden, die bereits an sich „gut“ sind (Platon). Dieses Argument nimmt seine Wirkung aus der Wesensschau der Vernunft, indem es die hergebrachte Verstandesmoral aus Ge- und Verbotsregeln ablehnt: eine Tat ist nicht deshalb gut, weil sie göttlichen Vorschriften folgt, sondern weil sie aus einer guten Gesinnung heraus getan wird.

b) Wenn Religionen für gutes oder schlechtes Verhalten Strafe oder Belohnung versprächen, so habe das Verhalten einen selbstsüchtigen Grund und sei daher abzulehnen. Indem Singer nicht zwischen verstandesgeleiteter Volks- und vernunftgetragener Hochreligion unterscheidet (die immer auch Weltreligion ist, weil sie sich auf der Basis des Wesens des Menschen im Gegensatz zur Volksreligion des Verstandes an alle Menschen auf dem Globus wendet), berührt er letztere gar nicht. Belohnung und Strafe sind typische Verstandesmotive; die Erlösung durch den Glauben in der vernunftgeführten Hochreligion ist keine Belohnung, sondern schreibt sich aus dem unbeeinflußbaren Wirken der Gottheit her, als „Gnade“ oder Erleuchtung, dem sich der Gläubige ausliefert – sola fide, sola gratia, unio mystica. Ethisches Verhalten dient in den Hochreligionen gerade nicht der Erlösung, sondern ist selbstverständliche Lebenshaltung als bloße Vorstufe des eigentlichen Heilsweges. Dieses Argument sagt mithin zum Verhältnis von Ethik und Hochreligion nichts aus; eine solche Religionskritik bleibt oberflächlich wie die aller Rationalisten, das Wesen und der innere Zusammenhang von Moral und Volksreligion, Ethik und Hochreligion wird nicht erfaßt. Religion als geistiges Bedürfnis des Menschen wird als metaphysisches Opiat abgetan, Ethik zum funktionalen System der Glücksvermehrung verflacht – insgesamt: was lebendiger Geist am Menschen ist, bleibt auf der Strecke.

Der Verzicht auf die religiöse Anbindung der Ethik falle aber allein schon deshalb leicht, weil „das Denken, das die Quelle der Ethik in den Haltungen von Wohlwollen und Mitgefühl findet“, alltäglich an unseren Mitmenschen zu beobachten sei und somit klar zeige, „daß ethisches Verhalten nicht den Glauben an Himmel und Hölle verlangt.“ Dieses Argument müßte doch erst noch daraufhin befragt werden, warum sich die Menschen „alltäglich“ so verhalten. Welche Umstände außer den religiösen Motiven sind es, die den Normalmenschen zu einem aus „Wohlwollen und Mitgefühl“ bestimmten Verhalten veranlassen? Ist der Mensch vielleicht doch der „edle Wilde“ J.-J. Rousseaus? Warum verhält sich der Mensch „gut“? Was daran ist fremdbestimmte Konditionierung und gleicht daher den verstandesbedingten religiösen Sanktionen, was davon hat seinen Grund im lebendigen Willen zum Gut-Sein, das in der Verstandesmoral nur und gerade in der religiösen Anbindung möglich ist in der Transzendenz des Eigennutzes? Wozu brauchen wir überhaupt eine besondere „Praktische Ethik“, wenn deren Quelle sich alltäglich in Wohlwollen und Mitgefühl beobachten läßt? Entweder tun die Menschen aus dieser Quelle heraus bereits das Ethische – oder aber nicht. Dann ist das Ethische entweder schon in den alltäglichen Handlungen da – oder es wird von den Menschen etwas verlangt, was über diese Handlungen hinausgeht. Dann aber ist die Quelle eben gerade nicht mehr Mitgefühl und Wohlwollen, sondern irgend etwas anderes.

Schließlich gelangt auch Singer zur Grundfrage:

„Die Frage nach der möglichen Rolle der Vernunft in der Ethik ist das entscheidende Problem, das durch die Behauptung, Ethik [Moral] sei subjektiv, aufgeworfen wurde. Die Nicht-Existenz eines mysteriösen Reiches objektiver moralischer [ethischer] Tatsachen bedeutet nicht die Nicht-Existenz moralischer Diskussion. Die könnte sogar hilfreich sein; denn wenn wir zu ethischen Urteilen nur dadurch gelangen könnten, daß wir diese seltsamen [!] ethischen Tatsachen intuitiv erfassen, so wäre ethisches Argumentieren noch schwieriger. Um die praktische Ethik auf eine gesunde Grundlage zu stellen, muß man also zeigen, daß eine moralische Diskussion möglich ist.“ Singer unternimmt nicht einmal den Versuch, die Herkunft dieser „mysteriösen“ und „seltsamen moralischen Tatsachen“ aufzuklären, sondern konstatiert lediglich deren „Nicht-Existenz“. Die Ethik der Vernunft aus der Entelechie des Menschen, insbesondere in ihrer idealistischen Variante, soll damit zur Metaphysik gestempelt werden. Durch „moralische Diskussion“ auf Basis der Vernunft, und nicht als „Intuition“, also nicht mittels Emotio und Verstand, soll offenbar die Subjektivität der Ethik [Moral] mittels des Prinzips der universalen Gleichheit in Objektivität überführt werden. Was unterscheidet dann aber das Metaphysische einer Verstandesmoral und einer Vernunftethik von der Utopie des Utilitarismus? Eines Utilitarismus, der durch Diskussion auf vernünftiger Basis „objektive“ Verhaltensmaßstäbe erst noch erarbeiten will, nach denen sich alle Menschen richten sollten. Das Grundprinzip dieser Diskussion, die öfter geforderte „Plausibilität“, bleibt unklar, weil ihre Evidenz sich einmal auf den Syllogismus, ein andermal auf den Nutzen, zum dritten auf die Emotionalität stützt.

Es gelte vielmehr: Ethik ist eine Auffassung.

Kaum hat Singer die Wichtigkeit des Verhältnisses von Vernunft und Ethik betont, ohne allerdings dazu Entscheidendes zu sagen, wirft er sich wieder auf die Beziehung zwischen Verstand und Moral: Ethisches Verhalten unterscheide sich von Nicht-Ethischem dadurch, daß dieses Verhalten bereit sei, sich als solches zu rechtfertigen: daß es also ethisches Verhalten sein will, zunächst gleichgültig, entlang welcher Moral. In dieser Auffassung ist selbst noch Relativismus enthalten: solches Verhalten ist moralisch , aber nicht ethisch. Es sagt nur etwas darüber aus, daß das Handlungsprinzip quantitativ über das handelnde Individuum hinausweist, indem das Individuum seinen Handlungsmaßstab nicht (allein) aus dem Eigeninteresse hernimmt, sondern in mindestens gewußter , besser noch bewußter Übereinstimmung mit einem quantitativ größeren Interesse handelt, also etwa in Übereinstimmung mit dem Gruppeninteresse der eigenen Gemeinschaft; gar nichts ist damit aber gesagt über das qualitative Prinzip. Handlanger von totalitären Unrechtsregimen handeln noch lange nicht moralisch geschweige denn ethisch, weil sie etwa von Propaganda verführt glauben, es sei richtig, so zu handeln.

Weiteres Erfordernis für „ethisches“ Verhalten sei, daß dies nicht im Eigeninteresse geschehe, sondern „ich muß mich an ein größeres Publikum wenden.“ Auch hier rächt sich wieder das Ausbleiben der Scheidung von Moral und Ethik: selbstverständlich ist Moral als Verhaltenskodex auf die eigene Gemeinschaft bezogen als einer Mehrheit von Individuen – ein Einzelner braucht keine Moral. „Irgendwie universal“ ist aber niemals die Moral, die sich ihrer Natur nach auf die eigene Gruppe beschränkt, sondern nur die wirkliche Ethik, deren Folie das Wesen des Menschen und deren Bezugsgröße somit die gesamte Menschheit ist. Mit diesem „irgendwie universal“ erschleicht sich Singer einen Übergang von der Moral in die Ethik. Diese konsequente Vermischung folgt auch daraus, daß er die Moral des AT mit der Ethik des NT gleichsetzt – Moses und Jesus, Dekalog und Doppelgebot. Den kleinsten Nenner aller Auffassungen von Moses über die Stoa, die angelsächsische Philosophie bis hin zu Sartre und Habermas ohne Begründung zum Beweis erhebend kommt Singer zu dem Schluß: „Ethik nimmt einen universalen Standpunkt ein.“ Dieser „... liefert uns eine überzeugende, wiewohl nicht letztgültige Begründung dafür, eine utilitaristische Position im weiteren Sinne einzunehmen.“ Der objektiv-klassische Utilitarismus formuliert an dieser Stelle das atavistische Wir-Gefühl der Gruppe, in der der Einzelne zunächst gar nicht in Frage kommt, rational und gelangt so zu dem Ergebnis, daß die Interessen aller zur Gruppe gehörigen und betroffenen Mitglieder gleich zählen, „daß meine eigenen Interessen nicht einfach deshalb, weil sie meine Interessen sind, mehr zählen als Interessen von irgend jemand anderm.“ „Also muß ich ... den Handlungsverlauf wählen, der per saldo für alle Betroffenen die besten Konsequenz en hat.“ Dies zeige uns zwar nicht, daß der Utilitarismus vom universalen Aspekt der Ethik hergeleitet werden könne, daß wir jedoch sehr rasch zu einer ursprünglich utilitaristischen Position gelangten, sobald wir den universalen Aspekt auf einfache vormoralische Entscheidungsprozesse anwendeten. Die Vernunft vollzieht hier nur rational und a posteriori nach, was der Verstand einst a priori aufbauend auf der Sozialkonditionierung des Tierreiches als sein ureigenes Prinzip auswickelte, den Nutzen für die Gruppe. „Dies bürdet meines Erachtens denen die Beweislast auf, die über den Utilitarismus hinauszugehen trachten. Die utilitaristische Position ist eine minimale, eine erste Grundlage, zu der wir gelangen, indem wir den vom Eigeninteresse geleiteten Entscheidungsprozeß universalisieren. Wollen wir moralisch denken, so können wir uns nicht weigern, diesen Schritt zu tun.“ Phylogenetisch verlief der Prozeß jedoch genau andersherum: das Eigeninteresse kam gegenüber dem Gruppeninteresse in keiner Weise in Betracht. Erst die Übernahme der Leitungsfunktion durch den Verstand in Phylogenese und Tradition führt zu einer zunehmenden Betonung der Eigeninteressen der Gruppenmitglieder. „Will man uns überzeugen, daß wir über den Utilitarismus hinausgehen und nichtutilitaristische Regeln oder Ideale akzeptieren sollen, so muß man uns gute Gründe für diesen weiteren Schritt liefern. Bevor solche Gründe vorgebracht werden, haben wir einigen Grund, Utilitaristen zu bleiben.“

Zwar will Singer „die Bedeutung von argumentierender Vernunft im Bereich der Ethik“ zeigen, aber im Ausbleiben der Scheidung von Verstand und Vernunft, Moral und Ethik sowie mit der unhinterfragten Hereinnahme des Gleichheits- und Universalitätsprinzips der Vernunft aus deren Wesensschau in den verstandesbedingten Utilitarismus gerät er notwendig in Widersprüche. Wenn die Vernunft als blanke Logik bar der weiteren Ergebnisse dieser Wesensschau des Menschen durch die Vernunft (also vor allem ohne deren Werte) argumentiert, so tut sie nichts anderes, als mittels Vernunft die Moralen des reflektierten Verstandes zu vereinheitlichen, um in dieser Weise zu „plausiblen“ Ergebnissen zu kommen. Hinter dieser angeblichen Plausibilität der Vernunft, die zum eigentlichen Prinzip erhoben wird, versteckt sich in Wirklichkeit das Prinzip des Nutzens des Verstandes – Vernunft macht sich damit das Wertprinzip des Verstandes zu eigen mit der einzigen Einschränkung der universalen Gleichheit der Nutzungsinteressen. Gleichgültig, ob „klassischer“, „Präferenz-“ oder sonstiger Utilitarismus, so ist es doch immer ein Nutzen, der entweder auf das Subjekt abhebt oder den Nutzen „objektiv“-abstrahierend als „Glückssumme in der Welt“ zu erfassen trachtet. Zwar wird von Singer die Emotionalität, das Fühlen des Einzelnen abgewiesen, aber wie will er dann eigentlich das „Glück“ des Verstandes als Wertmaßstab zum Stehen bringen? „Glück“ wird auf diese Weise zu einem formalen Rechengegenstand, eine inhaltliche Bestimmung findet nicht statt, seine Kriterien sind verstandesmäßig-sinnlicher Natur als „Interessenverwirklichung“ einer „rationalen und selbstbewußten Entität“. Leiden wird auf diesem Weg ausschließlich negativ bestimmt und bleibt auf die äußerlich-sinnliche Ebene beschränkt, Verstand wird nur als Spiegel solcher Leiden gesehen, werteschaffende Vernunft ist ebenso wie Religion fehlerhafte Metaphysik. Diese Anschauung hat, wie noch jeder Utilitarismus, Materialismus am Grunde – deshalb läßt sich angeblich das „Glück“ und gar noch seine „Weltsumme“ berechnen. Der Mensch wird hier als festgestellt gesehen, als „Durchzugsapparat für Glückshandlungen“: das Individuum und sein „Ich“ als die „Summe seiner Interessen“, „Glück“ als die größtmögliche Verwirklichung derselben. Die Vernunft schwingt sich in dieser Weise zur gottähnlichen Herrin des Lebens auf, die – obwohl sie doch nur eine Funktion des Lebens ist, also Teil – glaubt, den Wert des Lebens aus sich heraus bestimmen zu können und zu dürfen; dies zwar, um die schrankenlose Herrschaft ihrer selbst, wie sie ohne Prinzipien gegeben wäre, einzudämmen, aber immer noch in der Weise, als sei ihr alles Seiende zur Verfügung gestellt. Alles unterliegt dem Vermögen Ratio, die nicht nur, was richtig wäre, Bestimmungsmittel, sondern Bestimmungsgrund sein will. Zwar behauptet auch Singer, daß die Vernunft nicht die Zwecke, sondern nur die Mittel auswähle; bezeichnenderweise vergißt er aber dabei, daß die Vernunft im Entschluß zum Utilitarismus auf eigene Wertesetzung verzichtet hat – und sich in diesem Verzicht dennoch selbst als negativen Bestimmungsgrund setzt!

Prinzipiell geht eine solche Auffassung nicht über Descartes hinaus, sondern hinter dessen „cogito ergo sum“ zurück und erinnert an den sophistischen homo-mensura-Standpunkt. Der Anwendung der Vernunft auf das Seiende werden keine werthaft-ethischen, sondern lediglich formal-vernünftige und moralische Grenzen gesteckt, wie sich dem Verstand bei diesem dienender Vernunft die Leidminimierung und Glücksmaximierung zeigt. Das einzige ethische Prinzip einer solchen „Vernunftmoral“ ist das Prinzip der universalen und gleichen Abwägung aller Interessen von „rationalen und selbstbewußten Entitäten“; dies aber nicht auf dem Boden einer lebendig-innerlichen Bejahung, sondern als „plausible“ petitio prinicipium des Vermögens Vernunft, die sich insoweit ihrer eigenen Wesensschau des Menschen nicht entziehen kann, ohne sich als Vernunft aufzugeben. Die Wirkungslosigkeit solcher „Ethik“ liegt auf der Hand: aus der Vernunft wird lediglich ein Prinzip, und noch dazu ein formales, in den Verstand hinunter geholt (die universale Gleichheit) und mit dessen Wertprinzip (dem Nutzen) zusammengesetzt. Dies ergibt notwendig einen unheilbaren Selbstwiderspruch: die Gleichheit ist nur ethisch möglich, ohne das Wertprinzip der Vernunft, das „Gute“ als Grundlage der Gesinnungsethik des Individuums, ist Gleichheit fehl am Platze. Es ist die mit und als Vernunft gefundene Gleichheit der Entelechie des menschlichen Wesens aller Individuen, die als vernünftig-funktionales Grundprinzip das gesamte Wertesystem des Verstandes einschließlich dessen auf Nutzen und „Glück“ basierenden Utilitarismus umkrempelt, und die in der Umwandlung des grundlegenden Wertprinzips vom Nutzen zur Liebe das Wertesystem erhöht. „Glück“ in Form von Lust und Nutzen führt zwangsläufig zur Ungleichheit auch noch in der gleichrangigen Abwägung der Interessen, weil Nutzen vor allem darin besteht, mehr Nutzen als andere zu ziehen, also den eigenen Nutzen zu bevorzugen. Gleichheit der Interessen übersieht den Wertmaßstab des Nutzens, der sich über die Emotio im Vergleich mit dem Umgebenden realisiert: gleicher Nutzen ist gerade kein Nutzen, weil der Eigennutz dadurch ausgeschaltet werden soll. Uneigennützigkeit ist geradezu das Gegenprinzip des Verstandes (und das Prinzip der Vernunft), das dem Verstand und dessen Wertbezug so fremd wie nur möglich ist. Singers „Praktische Ethik“ läuft auf einen eingeschränkten Eigennutz der Menschheit hinaus, die sich, wenn sie nur die Gesichtspunkte von Leidminimierung und Glücksmaximierung rationaler und selbstbewußter Entitäten beachtet, an dem Selbstbedienungsladen Welt zwecks Selbsterhaltung, Lustgewinn und Reproduktion bedienen darf, wie sie mag.

Gleichheit

„Das Wesentliche am Prinzip der gleichen Interessenabwägung besteht darin, daß wir in unseren moralischen Überlegungen den ähnlichen Interessen all derer, die von unseren Handlungen betroffen sind, gleiches Gewicht geben ... Interesse ist Interesse, wessen Interesse es auch immer sein mag.“ „Das Prinzip der gleichen Interessenabwägung verbietet es, unsere Bereitschaft, die Interessen anderer Personen abzuwägen, von ihren Fähigkeiten oder anderen Merkmalen abhängig zu machen, außer dem einen: daß sie Interessen haben.“ Menschen unterschieden sich nicht nach Geschlecht oder Rasse, sondern als Individuen.

Dies ist ein negatives Argument für die Gleichheit gegen die Ungleichheit, weil sich aus allgemeinen Persönlichkeitsmerkmalen keine individuellen Unterschiede ergeben können. Damit wird aber noch nicht die Gleichheit der etwa in Bezug auf Intelligenz verschiedenen Individuen begründet; jedoch: „Es gibt keinen logisch zwingenden Grund für die Annahme, daß ein Unterschied in den Fähigkeiten zweier Menschen einen Unterschied in dem Maß der Beachtung rechtfertigt, die wir ihren Interessen schenken.“ Da auch dieses Argument wiederum rein negativ arbeitet: daß aus unterschiedlicher Intelligenz kein Grund für eine Ungleichbehandlung von Interessen abgeleitet werden könne, kehrt Singer im Versuch, doch noch ein positives Argument für die Gleichheit beizubringen, in einem Zirkelschluß zur Universalität als der Grundlage moralischer Urteile zurück, nach der Interessen einfach als Interessen, unabhängig vom betroffenen Individuum, seiner Rasse oder seinem Geschlecht, abgewogen würden: „Dies verschafft uns ein grundlegendes Prinzip der Gleichheit: das Prinzip der gleichen Interessenabwägung.“ Der Zirkelschluß liegt darin, daß die Universalität, die hier das Gleichheitsprinzip stützen soll, bereits selbst die nämliche Gleichheit voraussetzt: ich kann meine Interessen ethisch nur mit anderen Interessen „universal“ gleichstellen, wenn ich mich mit den anderen Interessenträgern auf die gleiche Stufe stelle. Eine überzeugende Begründung für Gleichbehandlung fehlt mithin, weil sie nicht auf die Wesensschau der Vernunft zurückgeführt wird; was bleibt, ist das rationale Unbehagen der Singer’schen Vernunft an der Ungleichbehandlung, die sich utilitaristisch auf den gleichen Nutzen der Betroffenen unter dem Primat des allgemeinen Nutzens zurückzieht. Auch ist das Singer’sche Prinzip nicht so gar neu, denn ein großer Teilaspekt dieses Prinzips hat als „Chancengleichheit, unabhängig von Rasse und Geschlecht“, wenn auch meist nur theoretisch und ohne befriedigende praktische Erfolge, in die demokratischen Verfassungen Eingang gefunden. Die Erfolglosigkeit dieses Prinzips gründet vor allem in der Nichtberücksichtigung der genetischen Ungleichverteilung von Begabungen und IQ, die notwendig und ohne individuelles Verdienst die Chancengleichheit gleich wieder vernichtet. Alle Ungleichheit ist insofern natürlichen Ursprungs, „gottgewollt“; will Singer diese naturgegebene Rangordnung der Individuen ändern, so kann ihm das niemals im Namen des Utilitarismus gelingen, dessen innerstes Prinzip, der Nutzen, aus der nämlichen Naturgegebenheit herstammt. Es ist erst die Vernunft, die qualitativ andere Werte in die Welt bringt – genau diese aber verwirft Singer als Metaphysik.

Das Gleichheitsprinzip als solches benötigt keinerlei Begründung, weil es identisch ist mit der Wesensschau der Vernunft, mithin mit der Vernunft selbst. Wesensschau ist nichts anderes als die Abstraktion auf das Gleiche unter Abtrennung des Verschiedenen. Der Begriff des Verstandes wird unter Entkleidung vom Individuellen auf dem Innenspiegel der Vernunft zur Definition des Wesens, das die Gleichheit als gleiche Wesensmerkmale des abstrakt Verglichenen in der bewußten Aufnahme des Piktogramms des Verstandes bereits impliziert. Vergleicht man etwa einen deutschen Mann, Hautfarbe weiß, IQ 135 mit einer Frau aus Nigeria, Hautfarbe schwarz, IQ 100, so hebt der Verstand unter Zusammensetzung seines Piktogramms „Mensch“ mit den individuellen Merkmalen auf die angeführten Unterschiede ab. Hingegen verwendet die Vernunft beim Vergleich bewußt nur das Piktogramm beider Individuen: daß sie all jene Wesensmerkmale an sich tragen, die einen Menschen ausmachen. Diese Merkmale aber sind bei der schwarzen Nigerianerin und dem weißen Deutschen gleich: sie haben beide eine bei Menschen vorkommende Hautfarbe (allerdings würde es wohl schwerfallen, eine grüne Hautfarbe mit dem Wesen des Menschen zu vereinbaren); beide gehören einem der beiden verschiedenen Geschlechter an, in welchem sich das höhere Leben wie auch das menschliche Wesen manifestiert (von dieser Wesensbestimmung hinsichtlich des Geschlechts her tut sich auch noch die Vernunft mit der Einordnung von Zwitterwesen und Geschlechtsübergängen schwer); beide fühlen und denken nach Art und Weise wie alle anderen Menschen auch, also dem Wesen des Menschen entsprechend, unabhängig von der IQ-Qualität (Grenzprobleme sind hier das Genie und jegliche Geistesstörung in der Weise, daß normales Denken und Fühlen nicht möglich ist).

Wenn eine deutsche Wissenschaftlerin vor der Weltbevölkerungskonferenz äußert, die durchschnittliche Intelligenz der Afrikaner sei niedriger als die anderer, so zeugt eine solche Äußerung einerseits von Ungeschicktheit und einer gewissen Überheblichkeit – ohne die Herausstellung der Individual-Unterschiede hinsichtlich des IQ über die Rassengrenzen hinweg wird eine solche Aussage in ihrer Einseitigkeit falsch und mißbrauchbar. Folgt das oben verwendete Beispiel der durchschnittlichen Beobachtung, so ließe sich der IQ-Wert im Einzelfall auch genau umgekehrt zuweisen. Andrerseits darf sich die offenbar auch auf diesem Gebiet vorhandene Tabuisierung nicht als Denkverbot auswirken, ähnlich wie dies Singer für die Diskussion von Euthanasie und Behinderung fordert. Wer das Nachdenken über Genetik mit Rassismus verwechselt, der sehe sich einmal die Startfelder in der Leichtathletik an, insbesondere etwa der Laufdisziplinen. Was aber auf dem Sektor der leiblichen Begabung der Rassen und der hierin zu konstatierenden Unterschiede gilt, sollte nicht ebenso für Unterschiede in den neuronalen Anlagen ins Auge gefaßt werden können? Die Tatsache solcher Unterschiede zwischen den Rassen wird sich auch angesichts von deren unterschiedlichen kulturellen Entwicklungen, die im Zusammenhang mit dem IQ stehen, schlecht leugnen lassen. Dies läßt sich vielleicht zeigen am Durchbruch der Reflexion der Vernunft seit Descartes, der bezogen auf die Gesamttradition offenbar nur der weißen Rasse gelang (keinesfalls aber allen Individuen derselben!), deren Anwendung seither sowohl das Denken wie die reale Herrschaft in der Welt bestimmt. Jedoch sind andere Rassen, wie dies zur Zeit das asiatische Beispiel zeigt, sehr wohl in der Lage, diese Denkformen nachzuvollziehen und anzuwenden. Auch ist damit noch gar nichts gesagt über den Wert eines höheren IQ, wenn damit gleichzeitig die Machenschaften der Vernunft freigesetzt werden, die die Lebensgrundlage der gesamten Menschheit zu gefährden imstande sind. Es ist noch nicht ausgemacht, ob die von der weißen Rasse vermittelte IQ-Erhöhung nicht in einem Desaster endet, das ohne die angewandte Reflexion der Vernunft vermieden worden wäre.

All jene oben genannten Wesensunter- oder überschreitungen bezüglich Hautfarbe, Geschlecht und IQ übersteigen nicht nur das Fassungsvermögen des Verstandes, sondern auch die Einsichtsfähigkeit der Vernunft, da damit das ureigene Gebiet der Vernunft, die Wesenszuordnung, verlassen wird. Anders ausgedrückt: in solchen Fällen wird durch die Realität sowohl das Regelgerechte des Verstandes wie die Wesensbestimmung der Vernunft überfordert; für solche Fälle sind beide Vermögen funktional nicht geeignet, weil sowohl die auf dem Sinnlichen basierende Evidenz des Verstandes wie der Syllogismus der Vernunft auf der Wiederholung von Gleichem beruhen. Eine andere Frage ist, inwieweit mit diesen Fällen von der Innerlichkeit her umgegangen werden kann und wird. Insofern verweisen solche Fälle auf die Transzendenz, indem uns die Wirklichkeit mit Tatsachen konfrontiert, zu deren Einordnung unsere funktionalen Vermögen auf Grund von deren Unregelmäßigkeit nicht in der Lage sind, mit denen wir uns daher aus unserer lebendigen Innerlichkeit heraus ins Benehmen setzen müssen. Genau dieses Problem wird auch dort eine Rolle spielen, wo wir an Grenzbereiche unseres technischen Könnens gelangen: ob wir dürfen, was wir können – also im Falle der Abtreibung, der Euthanasie, der Nutzung der Kernspaltung oder der Biogenetik. Auch hier übersteigen die auf unseren Fähigkeiten basierenden Sachverhalte die Einsicht von Verstand und Vernunft. Eine utilitaristische Entscheidung erscheint daher in solchen Fällen als ein vorschneller Rückgriff auf Verstandeskriterien unter Vermittlung der Vernunft, wo über die utilitaristische Sehweise und die Wesensschau, weil beide Perspektiven ungeeignet sind, hinauszugehen wäre. Dies gilt jedenfalls für die philosophische Vorgehensweise, die sich solcher Sachverhalte im „Begriff“ zu versichern sucht. Ein anderes ist das individuelle Realverhalten in solchen Fällen: hier muß und kann die Entscheidung auf der Basis der individuellen Anspannung zur Transzendenz gefunden werden. In „rationaleren“ Worten: solche Entscheidungen können nur getroffen werden in einer innerlich-angespannten Verantwortlichkeit, die sich über das Wesen des Menschen hinaus bezieht.

Aus dem Grundprinzip der wesenmäßigen Gleichheit stammen alle logischen wie auch alle wertmäßigen Folgerungen der Vernunft, also insbesondere die Universalität, Sittlichkeit und Gerechtigkeit. Die Vernunft als Vermögen ist das Mittel, das in der Rezeption ihrer selbst die Zwecke dieser selben Vernunft aus der Sublimation und Umformung der Zwecke des Verstandes entbirgt und erhöht. Wenn Tugend (Platon) oder Pflicht (Kant) um ihrer selbst „geliebt“ werden sollen, also unter Abtrennung jeglichen Eigeninteresses, so ist diese Forderung lediglich ein Selbstmißverständnis der Vernunft; diese Liebe ist keine petitio principium, sondern sie entspringt aus dem innerlich-existentiellen Bejahen der eigenen Existenz als vernünftiges Wesen, sie akzeptiert die Vernunft als die lebendige Basis der eigenen Existenz und damit als Verhaltensgrundlage zu allem anderen Seienden. Was Singer in der Vermengung von Verstand und Vernunft, Moral und Ethik nicht sieht, ist die Sublimierung des Eigeninteresses des wahrhaft vernünftigen Menschen, der also die Vernunft nicht nur funktional benutzt, sondern dessen èlan vital (e.v.) sich als Innerlichkeit in dieser dieser gegenüber gesetzt hat. Das „Eigeninteresse“ des ethischen Menschen (im Gegensatz zum moralischen) ist weder der eigene noch der allgemeine Nutzen; vielmehr definiert sich der ethische Mensch als Mensch an Hand der vernünftigen Folgerungen aus dem Prinzip der Gleichheit des Wesens aller Menschen. Erst diese Zusammensetzung der Wesensgleichheit der Vernunft mit der individuellen Ungleichheit, wie sie sich dem Verstand zeigt, erlaubt die rechte Sicht auf den Menschen und die Vereinigung beider Kategorien: Verwirklichung der individuellen Interessen als sich zur Verfügung stellendes Einbringen der eigenen „Farbe“ unter Führung von funktionalem Vermögen und inhaltlichem Wert der Vernunft in der Sublimation des Eigennutzes zur ethischen Bejahung seiner selbst und eben damit aller Menschen in ihrer wesensmäßigen Gleichheit.

Die Forderung nach gleicher Interessenabwägung sei eher ein Minimalprinzip der Gleichheit als ein radikales egalitäres Prinzip, es könne unter bestimmten Umständen sogar zur Ungleichbehandlung führen. Doch eine radikale Form von Egalitarismus wäre nicht leicht zu rechtfertigen. Diese Folgerung ergibt sich notwendig aus dem Utilitarismus, der die Folgen einer Handlung an der Wirkung auf die „Gesamt-Glückssumme“ mißt. Die Richtigkeit einer Handlung wird dabei gerade nicht durch die Gleichbehandlung bestimmt, sondern durch die Glücksvermehrung. Die Gleichbehandlung der Interessen ist nur insofern von Belang, als in der Ungleichbehandlung von Interessen im Normalfall die Glückssumme vermindert wird. Das „freie Spiel“ ungleicher Individuen verstärkt naturnotwendig (auch eine Art „Gravitationsgesetz“!) die Ungleichheit und das Leiden an unberücksichtigten Interessen, wohingegen sich dabei die Glückssumme der befriedigten Interessen wegen deren Übersättigung und des Übersteigens des Grenznutzens nicht erhöhen würde . „Gleiche Interessenabwägung unterstützt Entwicklungen in Richtung auf die Gleichheit aus Gründen des Prinzips der Verringerung des Grenznutzens.“ Das Prinzip der Gleichheit ist hier mithin kein unter allen Umständen gültiges Prinzip an sich, sondern vielmehr ein Mittel, um den Zweck der Erhöhung der Glückssumme in der Welt zu befördern. Das ethische Moment, das sich vom eigentlichen ethischen Wert der Vernunft abgekoppelt hat, kommt so quasi auf der Hintertreppe daher: es ist nicht die existentielle Bejahung der wesensgleichen Entelechie des Menschen, die aus sich selbst heraus zur Gleichbehandlung der Interessen zwingt; vielmehr ist es das dem Utilitarismus zugrundeliegende Verstandesprinzip des Nutzens als Glücksmaximierung, das für sich noch einer gesonderten Begründung des Gleichheitsprinzips bedarf.

Eine „realistische und richtige“ Konsequenz zur Herbeiführung von Gleichbehandlung der Interessen sei es, „sich um eine breitere Zustimmung zu dem Prinzip zu bemühen, daß Bedürfnisse und Anstrengungen zu bezahlen sind, und nicht ererbte Fähigkeiten“. Selten gibt sich das utopische Wunschdenken Singers und dessen Inkonsequenz so offen zu erkennen wie an dieser Stelle. Damit soll die unbestreitbar genetisch vorgegebene Ungleichheit der Rasse, des Geschlechts, des IQ überwunden werden zugunsten einer individuell zurechenbaren Leistungsbereitschaft unter Zugrundelegung des ausreichenden Lebensunterhalts für jedermann. Den Utilitarismus sieht man hier sofort daran, daß die Forderung nach Ausgleich als ökonomische auftritt, weil Lebensstandard und „Glück“ identifiziert werden. Das Leistungsprinzip an sich oder andere „Glücks“-Formen werden gar nicht erst erörtert, weil Singer mit dem Utilitarismus über diesen hinausgehende „Ideale“ ablehnt. So wird Singer nirgends darauf aufmerksam, daß es gerade das heute allgemein akzeptierte Leistungsprinzip ist (also ein Prinzip des Verstandes: schneller, höher, weiter – insgesamt: mehr), und so gesehen auch noch das utilitaristische Prinzip der „Glücksvermehrung“, das erstens die Ungleichheit verstärkt, zweitens die Lebensgrundlagen des Menschen wie alles Seiende auf dieser Erde zugrunderichtet. Wenn Singer hier den „Grenznutzen“ ins Spiel bringt (daß die Erfüllung von Bedürfnissen und Wünschen nur bis zu einer bestimmten Grenze hin sinnvoll ist, weil eine Überbefriedigung keine Erhöhung des „Glücks“ mehr gewähren würde), so ist dies ein aus der Vernunft stammendes Argument: daß der vom Verstand angestrebte Nutzen ab einer bestimmten Grenze unnütz ist, sieht erst die dem Verstand übergeordnete Vernunft, nicht aber dieser selbst. Dieses Argument widerspricht dem Leistungsprinzip des Verstandes im Drange nach Mehr – aber Singer sagt uns nirgends, wie er die utilitaristisch gerechtfertigte Bezahlung nach Leistung und Anstrengung mit dem Prinzip des Grenznutzens in Einklang bringen will. Er drückt sich vor der Frage, wie er den konsumbesessenen Verstandesmenschen der reichen Nationen dazu bringen will, seine Vernunft zu gebrauchen und sich dieser entsprechend zu verhalten und damit auf Leistung – und Konsum – über den Grenznutzen hinaus zu verzichten. So gemüts- und begabungsmäßig reich ausgestattete Individuen, die edelmütig eine Aufgabe einmal um ihrer selbst willen erfüllen, zum andern, weil diese Tätigkeit ihre Anlagen ausfüllt, und die dabei noch auf Entlohnung über den Grenznutzen hinaus verzichten, sind auf dieser Erde sehr selten gesät – und werden es auf absehbare Zukunft auch bleiben.

Gleichheit für Tiere

Hat man nicht zu Beginn eine widerspruchsfreie Anthropologie und Erkenntiskritik geleistet, so kehren die Probleme, die sich aus der Schichtung des Menschen als instinktives, empfindendes, fühlendes und denkendes Lebewesen ergeben, an anderer Stelle wieder , ohne daß man ein Gerüst hat, mittels dessen sich die Phänomene der Kommunikation von Seiendem, hier zwischen Mensch und Tier, einordnen lassen. So ergeht es auch Singer, und er gerät dabei von einer Grenzüberschreitung in die andere, er weiß die Qualitäten nicht zu scheiden, Vermögen, Funktionen und innerliche Leitungssphäre (e.v.) nicht auseinanderzuhalten.

Er glaubt, den „Speziesismus“ mit dem vorher über die Wesensgleichheit abgewiesenen Rassismus gleichsetzen zu können: „Die Tatsache, daß manche Menschen nicht unserer Rasse angehören, berechtigt uns nicht, sie auszubeuten, und ebensowenig bedeutet die Tatsache, daß manche Menschen weniger intelligent sind als andere, nicht, daß ihre Interessen mißachtet werden dürfen. Aber das Prinzip [der gleichen Interessenabwägung] impliziert auch folgendes: Die Tatsache, daß bestimmte Wesen nicht zu unserer Gattung gehören, berechtigt uns nicht, sie auszubeuten, und ebenso bedeutet die Tatsache, daß andere Lebewesen weniger intelligent sind als wir, nicht, daß ihre Interessen mißachtet werden dürfen.“ „Die Frage ist nicht: können sie denken? oder: können sie sprechen?, sondern können sie leiden?“ „Die Fähigkeit zu leiden und sich zu freuen ist ... eine Grundvoraussetzung dafür, überhaupt Interessen haben zu können, eine Bedingung, die erfüllt sein muß, bevor wir überhaupt sinnvoll von Interessen sprechen können ... Ist ein Wesen nicht leidensfähig oder nicht fähig, Freude oder Glück zu erfahren, dann gibt es nichts zu berücksichtigen. Deshalb ist die Grenze der Empfindungsfähigkeit ... die einzig vertretbare Grenze für die Rücksichtnahme auf die Interessen anderer. Diese Grenze durch irgendwelche anderen Merkmale wie Intelligenz oder Rationalität festsetzen hieße sie willkürlich festsetzen.“

Hier ist zunächst ein Trugschluß enthalten, der auf der unterschiedslosen Behandlung von Verstand und Vernunft beruht: die Wesensgleichheit von menschlichen Rassen, auf der die Forderung nach gleicher Interessenabwägung aus der Wesensschau der Vernunft fußt, mutiert dahin, daß auch die Interessen anderer Lebe-Wesen (soweit sie empfindungsfähig seien – was offenbar nur eine Art Intelligenzunterschied bedeuten soll) nicht mißachtet werden dürften, weil sie mit dem Menschen das „Wesen“ teilten, ‘zu leiden ... und zu freuen sich’. Damit ist aber gerade die Wesensschau der Vernunft als Feststellung eines gleichen Wesens verlassen in Richtung auf einen vergleichbaren Wesenszug; folglich handelt es sich lediglich um die Ermittlung eines Gleichen im Verschiedenen. Weiter ist es aber doch noch sehr die Frage, ob Tiere auf die gleiche Weise Leiden und Freude empfinden wie Menschen; zum dritten ist diese „Wesensbestimmung“, die verglichen wird, willkürlich, indem der Mensch mit anderen Lebewesen nicht nur die Empfindung, sondern auch instinktive und vegetative Funktionen teilt. Weshalb soll ausgerechnet die Empfindung als Vergleichsmaßstab dienen? Gleichzeitig wechselt auch der Inhalt des Begriffs „Interesse“, insofern sich menschliche und tierische Interessen sowohl in ihrer Qualität als auch im Bewußtheitsgrad unterscheiden. Das tierische „Interesse“, das maximal von der Empfindung getragen wird, ist auf die Grundfunktionen der Lebenserhaltung in reiner Gegenwärtigkeit bezogen, im Gegensatz zu den mit Willen und Bewußtsein verbundenen Interessen des Menschen in der Zeit. Dies alles heißt nichts gegen das Ziel Singers, das im Grundsatz zu bejahen ist, aber viel gegen dessen Herleitung und Begründung. Denn von ihm wird die Gleichheit zurückgeführt auf die Gleichheit zu leiden und sich zu freuen, ohne daß untersucht wird

a) was Leiden und Freude an sich ist.

b) wie sich die Qualität von Leid und Freude zwischen Mensch und Tier unterscheidet, also die Kategorialität von Emotio und Ratio, der Unterschied zwischen Empfindung und Gefühl.

Wenn Leid und Freude die Grundvoraussetzung sein sollen, überhaupt ein Interesse haben zu können, das anhand gleicher Abwägung entschieden werden kann, so wird daraus überdeutlich, daß es sich bei einer solchen Auffassung um einen verstandesbedingten Utilitarismus mit den Mitteln der Vernunft handelt. Leiden und Freude werden als die Werte schlechthin genommen, anstatt zu sehen, daß beides Funktionen des empfindenden Lebens sind. Die Empfindungsfähigkeit als die Grenze für die Berücksichtigung von Interessen anzusehen, ist genauso willkürlich, wie die Grenze des menschlichen Verstandesbewußtseins. Was ist mit allen Tieren, die nur über Instinkt verfügen, was ist mit den Lebensinteressen von vegetativen Tieren und Pflanzen? Wohl „leiden“ jene nicht wie empfindende Tiere, aber sie erleiden ihnen Angetanes durchaus und setzen sich dagegen mit ihren Mitteln zur Wehr. An die Stelle des Anthropozentrismus gelangt hier ein ebenso willkürlicher Empfindungszentrismus, der auf einer falschen Interpretation von Leiden und Freude beruht. Beides sind (qualitativ verschiedene) Parameter bestimmter Lebewesen einschließlich des Menschen, die zwar im Zusammenhang mit deren Interessen stehen, „Interessen“ aber haben alle Lebewesen. Die Natur wird im Abstellen auf die Empfindungsfähigkeit in gleicher Weise willkürlich zerstückt, wie wenn man auf den Unterschied von „Geist“ und Natur abhebt. Die sich sublimierende Einheit des èlan vital durch alles Seiende hindurch wird hier gerade nicht gewahrt, weil die Funktionen der Empfindung mit jenem verwechselt werden.

Auch hier handelt es sich um ein kategorieüberschreitendes Erschleichen von „Wesensgleichheit“ zwischen Mensch und Tier wie schon im Falle der Universalität von Moral und Ethik: „Ähnlich messen jene, die ich »Speziesisten« nennen möchte, da, wo es zu einer Kollision ihrer Interessen mit denen von Angehörigen einer anderen Spezies kommt, den Interessen der eigenen Spezies größeres Gewicht bei. Menschliche Speziesisten erkennen nicht an, daß der Schmerz, den Schweine oder Mäuse verspüren, ebenso schlimm ist wie der von Menschen verspürte. Darin besteht wirklich schon das ganze Argument dafür, das Prinzip der Gleichheit auf nichtmenschliche Tiere auszudehnen.“ Ohne näher darauf einzugehen, werden hier überraschenderweise Schmerz und Leiden synonym verwendet, als ob beide identisch wären. Der Schmerz, eine Funktion des Nervensystems, soll es nun sein, aus welchem das Prinzip der gleichen Interessenabwägung abgeleitet wird, jedoch nur bei Lebewesen, die „empfinden“. Woher weiß Singer, daß instinktive Lebewesen Schmerz nicht erleben? Wer kann das Innenerleben einer Spinne nachvollziehen, wenn sie einem bedrohlichen Faktum zu entgehen sucht oder gar von diesem ereilt wird?

„Schmerz und Leiden sind schlecht und sollten vermieden oder vermindert werden, ohne Ansehen der Rasse, des Geschlechts oder der Spezies des leidenden Wesens.“ Diese Behauptung offenbart eine merkwürdige Auffassung von Leiden und Schmerz; wenn die Natur derartige Erlebensformen hervorgebracht hat, so doch niemals als „schlechte“, sondern zur Unterstützung der Lebewesen in Fällen, mit denen lebendige Wesen offensichtlich notwendig konfrontiert sind. Wie paßt die Tatsache zu Singers Behauptung, daß Menschen häufig Schmerz und/oder Leiden freiwillig auf sich nehmen, wenn sie als Sportler, Helden oder Märtyrer bestimmte Ziele verfolgen? Schmerz als direkte Einwirkung, als durch arteigene oder Individualkonditionierung vorweggenommene Empfindung, als verstandesvermitteltes Gefühl, als bewußtes Leiden der Vernunft – in all diesen Formen drückt sich eine Reaktion erheischende lebenserhaltende Funktion aus. Dies belegt auch die Tatsache, daß für den Fall des Übersteigens ertragbarer und „sinnvoller“ Schmerzgrade all diese Systeme Abschaltfunktionen enthalten, die Schmerz, Gefühl und Wissen sowie deren innere Eigenwahrnehmung entkoppeln.

Auch in der Frage der Haltung und Nutzung von Tieren durch den Menschen verheddert sich Singer zwischen Moral und Ethik: innerhalb eines sich aus bestimmten Gegebenheiten entwickelnden Moralsystems ist es durchaus moralisch, das Angebot an tierischer Nahrung zu nutzen; daher stammen denn auch die verschiedenartigen „Speisepläne“ der Stämme und Völker. Gleichzeitig wird diese verstandesgemäße Nutzung darauf sehen, daß quasi nur die „Zinsen“ verzehrt werden, das „Kapital“ (der Bestand) jedoch zur weiterer Nutzung zur Verfügung bleibt, aus welchem Grunde dieser Bestand auch artgerecht behandelt wird. Die Überjagung und Übernutzung sowie die nicht artgerechte Haltung von Tieren – das alles stammt aus der Vernunft, aus deren ungebremsten „Machenschaften“, wenn sie weder die verstandesgemäße (moralische) Nutzungs- und Haltungsweise noch ethische Maßstäbe berücksichtigt. Hier wirkt sich die Ent-Wesung und Technisierung der funktionellen Vernunft aus, wenn und solange keine entsprechende Ethik in Kraft ist, die der Mensch für sich und alles Seiende in Anspruch nehmen könnte. Der Mensch läßt den Tieren in dieser Behandlung keine negative Sonderrolle angedeihen, sondern er behandelt jene wie sich selbst – als entwestes und vertretbares Lebewesen. Es ist die Skrupellosigkeit der entfesselten Ratio, die als Vernunft ohne Rückbindung in der Ethik ihre Potenz mit dem Nutzungsinteresse des Verstandes verbindet, dessen moralische Grenzen sie in ihrer angeblichen Überlegenheit als Vernunft für antiquiert hält und als nicht mehr gültig abgelegt hat.

Wie hätte ein wahrhaft ethischer Umgang des Menschen nicht nur mit den Tieren, sondern mit der ganzen Natur einschließlich seiner selbst auszusehen? Vorauszuschicken ist, daß die Kommunikation, welche das Seiende als Seiendes ausmacht, den Menschen notwendig aktiv auf das für ihn Umseiende bezieht; d.h., seine Vermögen Verstand und Vernunft sind naturgemäß dazu da, sich in ihrer vertikalen und horizontalen Anwendung zu entfalten. Es ist die Grundqualität jeden Vermögens, seine Potenz in der Kommunikation als Wirklichkeit umzusetzen. Erst nach dem Versuch der Umsetzung ist eine Qualifikation dieser Umsetzung möglich: in der Reflexion nach der lebendigen Inbesitznahme dieses Vermögen als èlan vital, der sich in diesem Vermögen als Leitung und Wert setzt. Die Tatsache, daß der Mensch das ihm nahrungsmäßig Zuträgliche ausmißt, ist also sehr wohl naturgewollt, damit bewegt sich der Mensch innerhalb seiner Entelechie. Eine ganz andere Frage ist, wie der Mensch diese Potenz seiner Vermögen anwendet, wenn er Tiere „produziert“ und seine Eßgewohnheiten von Luxus leiten läßt; dabei verhält er sich nicht innerhalb seiner Wesensbestimmung, weil er hier sein Vernunftvermögen ohne Einbindung in dessen ethischen Wertgehalt unterkategoriell für Gewinn (Verstand) und Lust (Emotio) einsetzt. Die Ent-Wesung des Menschen und damit auch der Natur besteht darin, daß der Mensch trotz Anwendung der Vernunft das eigene Wesen und damit das Wesentliche nicht festhält – und eben damit den Machenschaften seines Vernunftvermögens verfällt, weil er deren Werthaftigkeit außer acht läßt.

Grundbedingung eines richtigen Umganges mit der Natur und damit den Tieren ist also der richtige Umgang des Menschen mit sich selbst! Nur wenn er sein eigenes Wesen in dessen ethischer Entelechie erkennt und festhält, wird er auch das Wesen der Natur und seine eigene Verantwortung dieser gegenüber akzeptieren, die ihm aus der Wirkungsmacht seiner Vernunft zugewachsen ist. Die Auslieferung des Wesens des Seienden an die Vernunft des Menschen bedeutet gerade nicht, die Natur als schrankenlosen Selbstbedienungsladen anzusehen (wie es etwa Singer selbst unterhalb der empfindenden Lebewesen tut), sondern aus dieser Auslieferung erwächst die Pflicht, allem Seienden eine Existenz in seiner artgerechten Entelechie zu gewährleisten. Dieses Ergebnis bedeutet aber keine Pflicht zum Vegetariertum, wie es Singer fordert, sondern einen schonenden und artgerechten Umgang mit allem Mitseienden – einmal aus ethischer Pflicht entsprechend dem funktionellen Vermögen, zum andern in der Akzeption der auseinander entstandenen und zusammengehörigen Kommunikation alles Seienden aus der lebendigen Innerlichkeit der Vernunft heraus. Damit zeigt sich jene heutige extensive Tier-“Wirtschaft“ als falsch und zum Scheitern verurteilt, die sich aus kurzsichtigen und engstirnigen Interessen selbst den Boden unter den Füßen wegzieht, wie wir dies etwa an der Luftverschmutzung mit Methangas durch einen überhöhten Rinderbestand sehen, in den Seuchen bei der industriellen Schweine- und Geflügelhaltung, in der Bodenverpestung durch Überdüngung und Gülle, in der Ausrottung von Tier- und Pflanzenarten – eine unendliche Liste der Vergewaltigung der Natur durch den Menschen mittels der ethikvergessenen Potenz der Vernunft.

Wenn Singer uns die Rechtmäßigkeit unserer Eßgewohnheiten zu bedenken gibt, die Abschaffung der Massentierhaltung gar als „Sozialreform“ bezeichnet, durch „radikale Änderungen“ unseres Verhaltens Tieren gegenüber „... eine ... starke Verringerung der Gesamtsumme des Leidens bewirken“ will, so vergreift er sich mit seiner utilitaristischen Perspektive hinsichtlich des Wesens des Menschen, und er lehnt damit die steigernde Kommunikationsweise der Natur für den Menschen ab, eine Kommunikationsweise, die den Menschen wie alles Seiende herausgebildet und ihn dorthin geführt hat, wo er heute steht; eine Kommunikationsweise, die mit den Funktionen Schmerz und Lust, Leiden und Freude den Lebewesen einschließlich des Menschen anzeigt, ob sie sich in rechter Stellung zum Umseienden befinden. Nur zusammen sind diese Parameter sinnvoll; wenn man Schmerz und Leiden als schlecht bezeichnet, so gilt dies notwendig auch für Lust und Freude und damit für dasjenige, was die meisten Menschen unter Glück verstehen. Es ist nicht das Leiden oder der Schmerz, der alles Seiende verbindet – ganz im Gegenteil zerschneidet wie gezeigt Singer die Natur willkürlich in empfindendes und nicht-empfindendes Sein, wenn empfindendes Leben auf alles andere empfindungslos Seiende keine Rücksicht zu nehmen braucht, außer im eigenen Interesse – vielmehr ist es die innere Bewegtheit in ihrer vielfachen Sublimation, die zuletzt dem vernünftigen Leben diese Zusammengehörigkeit aufzeigt und zu sich daran ausrichtendem Verhalten nötigt, weil mit der selbstbewußten und existentiellen Bejahung seiner selbst als vernünftiges Wesen alle Vorformen des Lebens seitens des Menschen mitbejaht sind.

Mit der Empfindungsfähigkeit hebt Singer in angeblich rationaler Objektivierung auf ein funktionales Vermögen ab, die Vernunft ist es, die anhand ihrer eigenen Selbstwahrnehmung des Menschen bestimmt, welche Lebewesen zu schonen seien und welche nicht. Es ist der Mensch, der von seinen Vermögen auf diejenigen anderer Lebewesen schließt – insoweit ist hier nicht einmal der Anthropozentrismus überwunden, sondern lediglich in der Weise erweitert, daß der Mensch manchen Tieren eine gleiche Empfindungsfunktion attestiert, die er auch an sich selbst wahrnimmt. Es ist der verstandesbedingte Grundsatz: „Was du nicht willst, daß man dir tu´, das füg´auch keinem andern zu“, der in anthropozentrischer Analogie einem kleinen Ausschnitt des Seienden, den empfindungsbewußten Tieren, Schonung angedeihen lassen will. Warum aber nicht auch auf Instinkt oder auf Vegetativum begrenztem Leben? Allein aus dem Grund, weil uns unsere Instinkte und Vegetatives nicht direkt bewußt werden! Vielmehr nehmen wir diese Vorgänge, die den größeren Teil unseres eigenen Funktionsbestandes ausmachen, nur indirekt über das Gefühl wahr, also als über den Verstand vermittelte Empfindung. Aus diesem Grund, weil unsere unterste eigene Schicht der Selbstwahrnehmung das Fühlen ist, berücksichtigt Singer nur diejenigen Geschöpfe bei der gleichen Interessenabwägung, denen er eine gleichartige Wahrnehmungsfähigkeit zutraut.

Eine solche Ethik ist in doppelter Weise anthropozentrisch, weil sie einmal von der Vernunft des Menschen ausgeht, und weil sie zum andern nur in der Selbstwahrnehmung des Menschen auftauchende Funktionsschichten berücksichtigt; und sie ist rationalistisch , indem sie nur auf Wahrnehmungsvermögen abstellt und nicht auf das Lebendige an sich (e.v.), das allem aus sich selbst Lebenden zu eigen ist. Eine derartige Auffassung wird niemals in der Lage sein, andere als rationalistische Menschen zu bewegen, also auf den größten Teil der Menschheit ohne Wirkung sein. Denn wirksame Bewegung, die Konsequenzen in der eigenen Lebensführung erhoffen lassen soll, folgt niemals aus der Ansprache an ein Vermögen (Gefühl, Verstand oder Vernunft), sondern immer nur aus der Wirkung auf die Innerlichkeit der Menschen, zu welchem die angesprochenen Vermögen hinsichtlich des bewegenden Faktums lediglich in einem vermittelnden Verhältnis stehen. Dies umso mehr angesichts der Kategorieverschiedenheit der Menschen, die eine allgemeine Bewegung des Geschlechts hin zu einer wirklichen Ethik aller Menschen nur dann erwarten läßt, wenn das bewegende Faktum sich auf die innere Willenssphäre in Transzendenz der vorhandenen Vermögen bezieht, weil nur in der Transzendenz alle Menschen trotz verschiedener Vermögen in gleicher Weise bewegt werden können. Der rein funktionale Weg über „moralische [ethische] Diskussion“ und Vernunfteinsicht kann nicht zum gewünschten Ergebnis führen, weil man einem moralischen Verstandesmenschen die vernünftige Einsicht in die Ethik ebensowenig nahebringen kann wie dem Tier Moral. Wenn für die meisten heute lebenden Menschen diese Transzendenz und damit eine über sie selbst hinausweisende Ethik in ihrem Glauben an einen wie immer ausgestalteten „Gott“ nicht gegeben wäre, so müßte man „Gott“ glatt erfinden – und selbst noch der Utilitarismus müßte dies im Hinblick auf die dadurch bewirkte Leidverminderung wünschen.

Vernunft und Ethik

Wie aus dem vorigen ersichtlich, wird hier in einer ganz bestimmten Weise die These vertreten, daß ethisches Handeln keiner gesonderten Begründung bedarf, weil ethisches Handeln identisch mit vernünftigem Handeln ist. Die hiesige These unterscheidet sich allerdings völlig von derjenigen Kant’s, der ihre Gültigkeit auf die angebliche Objektivität des Vernunftvermögens zurückführt, wohingegen hier der Beweis aus der innerlichen Selbstbejahung des Individuums als vernünftiges geführt wird. Dabei entstammen die Werte der Ethik nicht aus dem Vermögen Vernunft, sondern aus der Innerlichkeit des Individuums unter Vermittlung des Vernunftvermögens, mit dem sich der Nutzen des Verstandes zum Guten der Vernunft sublimiert. Gegen diese Identität von Vernunft und Ethik im Kantischen Sinne, die auch hier abgelehnt wird, wendet sich Singer mit drei Argumenten, die ihn zu dem Schluß führen, daß dies „gewaltige Hindernisse“ seien, und er keinen Weg kenne, um sie zu überwinden. Alle vorgebrachten Ablehnungsgründe Singers beruhen darauf, daß er unter dem Begriff „rational“ Verstand und Vernunft vermengt.

Das erste Gegenargument geht davon aus, daß es sehr wohl „rational“ sein könne, egoistisch zu handeln, und daß in dieser Handlungsweise Übereinstimmung zwischen rational Handelnden hergestellt werden könne: „Reiner Egoismus kann, obwohl kein universalisierbares Prinzip, von allen rational Handelnden als eine rationale Handlungsgrundlage akzeptiert werden.“ Damit erschleicht er sich einen angeblichen Widerspruch, weil „rational Handelnde versuchen können, einander gegenseitig zu hindern, das zu tun, wozu der andere zugegebenermaßen berechtigt ist ... Dementsprechend scheitert dieser Versuch zu zeigen, daß ein Verbindung zwischen Vernunft und Ethik besteht.“ Das Erschleichen ist darin gegeben, daß zunächst der Begriff „rational“ verwendet wird, in dem Verstand und Vernunft zusammengedacht sind, um sodann damit die Universalisierbarkeit der Vernunft zu verwerfen. Was sind „rational handelnde Egoisten“? Verstandesmenschen, die dem Nutzen oder der Lust folgen, und die Vernunft bestenfalls zu diesen Zwecken mißbrauchen. Es kann aber nicht verwundern, daß die mißbräuchliche Anwendung der Vernunft nicht universalisierbar ist, wenn sie zu ihr unterkategoriellen Zwecken dient! Vernunft und Ethik können sich immer nur dann decken, wenn nicht nur die Mittel, sondern auch die Zwecke der Vernunft als Innerlichkeit entnommen sind. Der sich als Vernunftwesen selbstbejahende Mensch kann unmöglich ein Egoist in der von Singer vorausgesetzten Weise sein, weil mit dieser Bejahung die ethischen Werte der Vernunft in der Sublimierung des Nutzen des Verstandes zum Bestandteil seines Wesens geworden sind..

Als nächstes wird mit Hume eine „praktische Vernunft“ eingeführt, die sich lediglich auf die Mittel, nicht aber auf die Zwecke beziehe – das aber ist gerade die Instrumentalisierung der Vernunft. Wo steht denn, daß die Vernunft nicht eigene Zwecke haben könnte – und sollte? Wenn wir im „praktischen Denken“ (was ist das?) „von etwas Gewolltem ausgehen“, so läßt sich dem doch nur dann zustimmen, wenn wir auch mit der Vernunft wollen können. Oder möchte Singer behaupten, daß wir nur mit dem Gefühl oder dem Verstand „wollen“ sollen? Hat der Utilitarismus seine Werte, insgesamt sein „Gewolltes“, den Nutzen, nicht ebenso „metaphysisch“ in der Auswicklung des Verstandes erworben, wie es nun der Vernunft verwehrt werden soll, weil deren Werte „mysteriös“ und „seltsam“ seien? Wo Kant von der Apriorität der Vernunft und des Sittengesetzes ausgeht, da muß bei Hume und offenbar auch bei Singer die Apriorität des Fühlens (Schmerz und Leiden, Lust und Freude) diese Stelle einnehmen. Ohne daß man sich allerdings klar macht, was Fühlen eigentlich sei, beziehungsweise daß es mit dieser angeblichen Apriorität nicht weit her ist. Fühlen wird hier mit der Sphäre der lebendigen Innerlichkeit (e.v.) verwechselt, weil sich die verstandesmäßige Selbstwahrnehmung der emotionalen Bewertungen, die wiederum auf der hormonalen Steuerung basieren, so unzweideutig „lebendig“ auszusprechen scheinen. Nur aus dieser Warte, in welcher die Vernunft sich zum Verstand rein dienend verhält, widerspricht es „nicht der Vernunft, wenn ich lieber die Zerstörung der ganzen Welt will, als eine Schramme an meinem Finger.“ Damit ließe sich auch das Ausharren Hitlers in der Reichskanzlei bis zur letzten Minute als vernünftig verteidigen. Hunderttausende Tote hat dann dieses angeblich vernünftige Handeln Hitlers unnötigerweise und zusätzlich erfordert – welche Denunziation und Instrumentalisierung der Vernunft! Man kann und will aus der utilitaristischen Ecke nicht zugeben, daß die Vernunft selbst Zwecke hat, weil „wir im praktischen Denken von etwas Gewolltem ausgehen“. Man sieht nicht, daß dies mittels Verstand beziehungsweise Emotio „Gewollte“, also die Zwecke des Verstandes, genauso „seltsam“ und „mysteriös“ sind, wie dies die Utilitaristen den Werten der Vernunft unterstellen. Lieber noch flüchtet man sich hier in die Unbewußtheit und Fremdkonditionierung von „Bedürfnissen“, die sich synthetisch-emotional im Verstandesbewußtsein melden, als in selbstbewußter Freiheit die ethischen Werte zu wählen. Es ist für uns alle vernünftig, ethisch (und nicht nur moralisch) zu handeln, ungeachtet dessen, was wir wollen: weil wir nur zu „rationalen und selbstbewußten Entitäten“ werden können, indem wir uns aus der genetischen Konditionierung der Instinkte wie aus der Traditionskonditionierung von Emotio und Verstand und damit aus der Instrumentalisierung der Vernunft befreien. Wenn die Zwecke mit Hume „apriorisch“ als „Gewolltes“ gesetzt werden, zu denen sich die „praktische Vernunft“ dienend verhalte, so geht man damit sogar noch hinter die Kantische Devise der Aufklärung als Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit zurück – man will unmündig bleiben als Diener des „Gewollten“.

Das dritte Argument gegen die Identität zwischen Vernunft und Ethik beruht darauf, daß die eigenen Interessen des Individuums langfristig gesehen werden können müßten, weil es sonst nicht gelänge, sich als Person in der Zeit zu sehen, in der die Gegenwart lediglich ein Abschnitt unter anderen sei. Auch hier wird wieder sofort deutlich die Vermischung von Verstand und Vernunft: die Vernunft ist es, die die eher kurzfristig wirksamen Interessen des Verstandes als Lust und Nutzen steuern können soll, auch gegen eine „glühendere Neigung“, weil man offenbar nur dann nach der utilitaristischen Vorstellung „Person“ ist. Hier wird also „Person“ im Sinne der menschlichen Entelechie definiert als Verstand, der die Zwecke setzt („das Gewollte“) einschließlich einer instrumentalen Vernunft, die auch die langfristigen Interessen berücksichtigt („Klugheit“). Es kann nicht verwundern, wenn mit einer solchen grundsätzlich egoistischen Konstruktion des Menschen der „Altruismus“ nicht begründet werden kann, aber das liegt bereits am Ansatz, weil die Zwecke der Vernunft, also die Ethik, in einer solchen Entelechie von vornherein ausgeschlossen sind. Freilich bin ich als Mensch, wenn ich bezüglich der Zwecke allein von Instinkt, Emotio und Verstand ausgehe, „mit der Qualität meines Daseins in einem fundamental wichtigen Sinne befaßt ..., in dem ich mit der Qualität des Daseins anderer Individuen nicht befaßt bin ...“ – wie auch! Natürlich ist dieser „Weg durch die allgemein akzeptierte Unterscheidung zwischen Selbst und Anderen blockiert ...“ Doch diese allgemeine Akzeption der Unterscheidung gilt gerade nur für die Interessen von Instinkt, Emotio und Verstand – es ist das Kennzeichen der Vernunft, daß sie diese Unterscheidung in ihrer Wesensschau des Menschen aufhebt und eben damit erst zur Ethik führt. Es ist das Wesen der Vernunft, sich nicht auf das Individuum als dessen Instrument zu unterkategoriellen Zwecken zu begrenzen, sondern das innere Bewußtsein in der Wesenssicht des Menschen im Hinblick auf alle Individuen zu entgrenzen. Selbst noch das Singer’sche Prinzip der gleichrangigen Interessenabwägung stammt gerade aus diesem Vernunftaspekt – und so erinnert er sich hier seines eigenen Ausgangspunktes nicht mehr: daß das Wesen des Menschen darin bestehe, mit seinen Interessen beschäftigt zu sein, und daß dies gleiche Wesen aller Menschen beziehungsweise empfindungsfähiger Lebewesen zwecks Glücksmaximierung und Leidminimierung die gleichrangige Interessenabwägung fordere. Nur in der Wesensschau der Vernunft als universalisierende Interessenabwägung kann diese Gleichheit gesehen und damit die Kluft zwischen dem Selbst und dem Anderen überwunden werden, in der Universalisierung der Interessen als gleichgewichtige wird das Recht des eigenen Selbst mit dem Recht des anderen Selbst auf Interessenverwirklichung gleichgesetzt. Die Vernunft ist es, die der Ethik die Brücke über die utilitaristischen Zwecke von Emotio und Verstand der Einzelnen wie der verschiedenen Moralen hin zu jenem Minimalprinzip baut, daß jeder Mensch, weil er gleichen Wesens ist, das gleiche Recht auf Berücksichtigung seiner Interessen hat. Ohne Vernunft ist auch noch die Singer’sche „Praktische Ethik“ nicht denkbar.

Ethik, Eigeninteresse und Sinn des Lebens

Alles, was Singer hier zu einer „Rechtfertigung der Ethik in Begriffen des Eigeninteresses“ vorbringt, baut auf der Vermengung von Moral und Ethik und wiederholt zunächst nur bereits besprochene Standpunkte, was ihn schließlich zur Frage führt, ob nicht gar Ethik und Eigeninteresse zusammenfielen. Folgerichtig wird hier dann das Pferd von hinten her aufgezäumt, weil nämlich ein glückliches Leben (also im Eigeninteresse) nicht möglich sei ohne die Verwirklichung einiger ethischer Maßstäbe [welcher?]. Wohlwollen, Mitgefühl und das „natürliche Gewissen“ seien solche Faktoren, die uns aus Eigeninteresse ethisch handeln ließen. Leider aber könne man wegen der Vielfalt der Glücksmotive sowie auch wegen der Beobachtung an Psychopathen, die über solche der Ethik günstigen Eigenmotive wie Mitgefühl und Gewissen nicht verfügten und ihr „Glück“ im reinen Selbstbezug genössen, das Zusammenfallen von Ethik und Eigeninteresse nicht verallgemeinern. Weil nun an diesem Punkt nicht weiterzukommen ist, vollzieht Singer wieder um einen Schwenk, diesmal hinein in die wirkliche Ethik, ohne den Kategoriewechsel deutlich zu machen – „Glück“ wird nun auf einmal gleichbedeutend mit „Sinn“: „Die meisten nachdenklichen [!] Menschen möchten, daß ihr Leben dann und wann [!] so etwas wie [!] Sinn bekommt.“ Um den Utilitarismus nicht aufgeben zu müssen, ist es nun der Egoismus, der nach Sinn verlangt; dabei wird selbst der Psychopath als nicht unvernünftig und nicht im Irrtum bezeichnet, oder das Briefmarkensammeln wird als eine völlig vernünftige Sinngebung angesehen. Wenn man wie Singer dieser Meinung ist, dann ist allerdings nicht einzusehen, was daran unvernünftig sein soll, den Sinn des Lebens im Genuß von Fleischspeisen jeder Variation und Luxus über jeden Grenznutzen hinaus zu finden, wie dies so viele Menschen ja durchaus vorleben, welchen Standpunkt Singer andrerseits jedoch bekämpft, weil der Mensch sich entsprechend dem Prinzip der gleichen Interessenabwägung als Vegetarier am Grenznutzen orientieren sollte. Was gilt denn nun?

Der eigentliche Sinn aber, wie ihn Singer schildert, besteht in der Verinnerlichung des Ethischen, weil nur in der Verwirklichung des Ethischen das Glück als Erfüllung der Sinnfrage sich einstellt („das Paradox des Hedonismus“). Die Identifikation mit dem denkbar objektivsten Standpunkt („des Universums“) bedeutet nichts anderes als die subjektivste Konzentration der Vernunft in der Selbstbejahung des ethischen Wesens des Menschen: „daß Rationalität in dem weiten Sinne, der Selbstbewußtsein und Reflexion über das Wesen und den Zweck unserer eigenen Existenz einschließt, uns zu umfassenderen Interessen als der Qualität unserer eigenen Existenz drängen kann ...“ Womit wir denn aus Egoismus – ... über den Egoismus hinaus wären! Und so nimmt Singer am Ende doch noch Zuflucht bei der zunächst so heftig befehdeten Metaphysik: was anderes ist die „Reflexion über das Wesen und den Zweck unserer eigenen Existenz“? Der reflektierenden Vernunft über das Wesen des Menschen wird zugestanden, den Zweck dieser Existenz selbst zu entbergen und sich nicht nur auf das „Gewollte“ zu begrenzen. Ist es jedoch dann nicht eine Unterlassungssünde, das Wesen der Metaphysik nicht abgeklärt, sondern sie nur als idealistisch denunziert zu haben, wenn man sich am Ende dennoch auf sie einläßt?

Von da aus wird es nun auch klar, weshalb hier in der Einleitung davon gesprochen werden konnte, daß eine vorurteilsfreie und vernunftgeleitete Anschauung zu ähnlichen praktischen Ergebnissen kommen wird wie Singer: Vorurteilsfreiheit ist nichts anderes als jene existentielle Stellung, in die sich das Individuum durch „Reflexion über das Wesen und den Zweck der eigenen Existenz“ hineinbewegt hat, um sich von den genetischen und traditionellen Konditionierungen (Vorurteilen) von Emotio (Lust) und Verstand (Nutzen) zu lösen. Damit aber ist man über den Utilitarismus hinaus und unterwirft sich in freiwilliger Liebe dem einzigen Zweck der Vernunft: ihren Wert als konzentrierte Liebe zu allem Seienden und über dies Seiende als erstarrte Vermögen hinaus in die Welt zu bringen.

Das Tabu

Wenn Peter Singer, wie er im Anhang seiner „Praktischen Ethik“ schildert, insbesondere im deutschen Sprachraum wegen seiner Ansichten zu Abtreibung, Euthanasie und Behinderung angegriffen wird, so weist diese aggressive Reaktion auf eine Tabuverletzung. Man setzt sich nicht mit der Meinung Singers auseinander, sondern lehnt sie ohne nähere Kenntnis ab. Eine solche Tabuisierung war schon immer Kennzeichen des verstandesbedingten Reagierens auf ein Tremendum (im Gegensatz zum vernunftgeleiteten sich Öffnen gegenüber dem Augustum): der „heilige Sperrbezirk“ soll ein Phänomen bannen, dem sich der Tabuisierende so ausgesetzt wähnt, daß er mit dem Phänomen nur in dieser Weise umzugehen vermag. Wie die atavistischen Stammes- und verstandesbedingten Volksreligionen vor dem vergöttlichten Tremendum so zittert der heutige Mensch vor seinem eigenen atavistischen Innern, wie es in seiner menschenverachtenden Scheußlichkeit im „Dritten Reich“ aufbrach. Diejenigen Völker, also insbesondere die angelsächsischen, die an diesen Praktiken unbeteiligt waren und sie beendeten, tun sich naturgemäß im Umgang mit solchen Phänomen erheblich leichter als diejenigen, die erleben mußten, zu welcher Pervertierung ein Öffnen der Schranken des Tabus mittels der Instrumentalisierung der Vernunft führen kann. Nachfolgend wurde von letzteren daher ein umso dichterer „Sperrbezirk“ um diese Phänomene gezogen, den man nun auch nicht mehr im Namen der Rationalisierung betreten will, um „den Anfängen zu wehren“, die auch damals von einer instrumental rationalisierenden Wissenschaft eingeleitet wurden. Das Problem liegt in der offenbar notwendigen Tabuisierung von Verhaltensweisen, wo eine rational-bewußte und wertgeleitete Verhaltensnorm nicht sichtbar ist. Das Tabu verhindert zwar den Rückfall in solch atavistische Verhaltensweisen (daher der Sperrbezirk), verstellt aber gleichzeitig den Blick für einen rationalen Umgang mit diesen Phänomenen und leistet damit unbewußten und sich aus Vorurteilen nährenden Verhaltensweisen Vorschub. Daraus wird ersichtlich, daß auch dieses Problem aus dem ungelösten Spannungsverhältnis zwischen Verstand und Vernunft stammt; denn es ist mitnichten so, daß die sich ihrer selbst bewußte Vernunft in den meisten Individuen einer Generation die Oberhand hat, im Gegenteil, es ist der die Vernunft instrumentalisierende Verstand, der die meisten Menschen mit seinen Vorurteilen beherrscht – und der deshalb Tabus nötig hat. Die Forderung Singers nach rationaler Diskussion der Tötung von Leben ist aus der selbstbewußten Vernunftperspektive berechtigt, aber ebenso hat auch diejenige Anschauung ihre Gründe, die aus leidvoller Erfahrung sich nicht mehr von der instrumentalisierenden Vernunft einer rationalisierenden und auflösenden Wissenschaft „von oben“ hinter’s Licht führen lassen und daher diese Diskussion von vornherein tabuisieren will.

Einen Spiegel dieser Sachlage bieten die derzeitigen Beratungen des Europarats zur „Bioethik-Konvention“, wo die traumatisierten Deutschen und die utilitaristisch-forschungsfrohen Briten in denjenigen Grenzfällen die entgegengesetzten Positionen einnehmen, in denen es insbesondere um die Forschung an künstlich erzeugten Embryonen und an Behinderten geht; diese soll selbst ohne Zustimmung der betroffenen Behinderten ermöglicht werden, und schließlich auch in denjenigen Fällen, „in denen keine gesunden und zustimmungsfähigen Menschen zur Verfügung stehen.“ Der Wortlaut demaskiert sich hier selbst – der Mensch wird, wie im übrigen alle anderen Lebewesen auch, zum zur Verfügung stehenden Gegenstand, die instrumentalisierte Vernunft verdinglicht das Leben. Warnt die deutsche Seite davor, keine Tore zu öffnen, „die niemand mit Verantwortungsbewußtsein öffnen darf“, so bezeichnet man britischerseits die deutsche Haltung als „Psychodrama“, dessen Hysterie den Freiraum der Forschung einenge. Das Verwunderliche an dieser Diskussion über Bioethik allerdings ist, daß keine Seite ethisch argumentiert; steht bei der deutschen Seite das genannte Tabu einer rational-ethischen Sehweise im Wege, fordern die Briten unter dem Deckmantel des Fortschritts einen möglichst großen Freiraum und allgemein gehaltene Vorschriften, um insbesondere die wirtschaftliche Entwicklung der Gentechnologie nicht zu behindern. Ähnlich auch Singer, der zugunsten seiner rationalistischen Perspektive keinen anderen Wert anzuführen weiß als ausgerechnet den Utilitarismus, der selbst wieder den verschiedensten Oberwerten („Glücken“) dienstbar gemacht werden kann, weil für ihn alles „vernünftig“ ist, was Glück bringt und Leid minimiert, ohne doch definieren zu können, was Glück sei. Wenn man dann derartige Tabus verletzt, sei es auch mit den besten Absichten, so darf man sich nicht wundern, wenn die Tabuverletzung Reaktionen erzeugt. Singer aber zeigt sich verwundert und erregt sich darüber derart, daß er diesen Vorgängen ein eigenes langes Schlußkapitel widmet. Dabei müßte er doch wissen, daß gerade auch die Tabuisierung ein durchaus „vernünftiges“ Mittel zur Leidminimierung ist, um auf einer bestimmten Geistesstufe mit Fakten umzugehen, die mit Verstand und Vernunft nicht zu bewältigen sind. In welchem rationalisierten Kleid das Tabu dann daherkommt, etwa als „Heiligkeit des Lebens“ oder als „Einzigartigkeit des menschlichen Lebens“, ist unwichtig dem Erfolg des Tabus gegenüber: sich zu solchen Handlungen der Lebensvernichtung, die die Welt zu Recht bis heute den Deutschen als zu ihrer Geschichte gehörig vorhält, nicht noch einmal verführen zu lassen. Daß aber ein so grobes und altes Mittel wie das Tabu notwendig über sein Ziel hinausschießt, liegt auf der Hand; denn der tabuisierende Mensch versteht nicht zu differenzieren, wie es für die ethische Diskussion solcher Phänomene wie Euthanasie und Behinderung nötig ist. Ist es nicht paradox, die Deutschen einerseits mit ihrer geschichtlichen Schuld zu konfrontieren, andrerseits dann ihrer tabuisierenden Reaktion vorzuhalten, in Deutschland werde man mundtot gemacht? Schießt die Dramatisierung dieser Reaktion bis hin zu dem angeführten Voltaire-Zitat nicht weit über das Ziel hinaus, wenn doch gleichzeitig jeder, der nur will, sich das Singer’sche Buch in deutscher Übersetzung beschaffen kann? Ein Buch, das sich auch in Deutschland so erfolgreich verkauft, daß die erste Auflage vergriffen war, und nun eine zweite Auflage vorgelegt wurde? Die Meinungsfreiheit schließt auch die Akzeption der Tatsache ein, daß es Menschen gibt, die aus in ihren eigenen Augen guten und „vernünftigen“ Gründen in den angesprochenen Sachverhalten mit einem Tabu reagieren und dieses Tabu verteidigen. Die Pose des „Sire, gebt Gedankenfreiheit!“ scheint bei einer solchen Sachlage doch etwas übertrieben.

Einer intoleranten Aggressivität des Tabus muß allerdings „Der Gedanke“ entgegengehalten werden, wie ihn Horkheimer und Adorno formuliert haben: „[Manche Menschen] mißverstehen jede Äußerung im Sinn eines letzten Bekenntnisses, Gebots oder Tabus. Sie wollen sich der Idee unterwerfen wie einem Gott, oder sie attackieren sie wie einen Götzen. Es fehlt ihnen ihr gegenüber an Freiheit ... Heutzutage drückt jener Fetischismus sich drastisch aus. Man wird für den Gedanken zur Rechenschaft gezogen, als sei er die Praxis unmittelbar. Nicht bloß das Wort, das die Macht treffen will, sondern auch das Wort, das tastend experimentierend, mit der Möglichkeit des Irrtums spielend, sich bewegt, ist allein deshalb intolerabel. Aber: unfertig zu sein und es zu wissen, ist der Zug auch jenes Denkens noch und gerade jenes Denkens, mit dem es sich zu sterben lohnt.“